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Die Bucht des grünen Mondes

Die Bucht des grünen Mondes

Titel: Die Bucht des grünen Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Beto
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stumme Anweisung hin schnitt sie einige Lianen. Über seinem Mund presste sie Flüssigkeit aus den weichen Strängen. Mit einem großen Palmblatt verscheuchte sie die Mücken. Bei jedem Schritt achtete sie auf ihre Füße, und wenn sie ein gefährlich wirkendes Insekt sah, reagierte sie behutsam, ganz wie Herr Oliveira und die Schwarze Maria es sie gelehrt hatten. Manchmal pflückte Ruben einen Käfer aus dem Sand – und aß ihn. Sie wusste nicht, ob er seinen Hunger stillte oder das Tierchen eine Art Arznei war. Herr Oliveira hatte erzählt, dass der Urwald für fast jede Plage und jede Krankheit ein Gegenmittel besäße. Die Indios wüssten darüber Bescheid. Aber vielleicht, so hatte er angefügt, war das auch nur eine Legende. Zumindest klang es wie Hohn in einer Welt, in der man jederzeit sterben konnte.
    «Ruben, was machen wir jetzt hier? Sollen wir in dein Boot und dann … ja, was dann?»
    Er deutete auf ihren Geigenkasten.
    «Du möchtest, dass ich für dich spiele?»
Na schön, wenn es dir gefällt
, dachte sie. Aber weshalb wies er auf seine Wunde? Als sie die Geige in die Halsbeuge bettete und den Bogen hob, winkte er sie näher heran und bedeutete ihr ungeduldig, sich über seinen Bauch zu beugen.
    «Lied», sagte er. «Heil-Lied.»
    Sie begriff nicht. Aber dass er Deutsch sprach, erschien ihr als ein kleines Wunder. Wenn er das vermochte, dann würde er auch nicht sterben, ganz sicher! Sie kniete neben ihm und spielte, was ihr in den Sinn kam. Es klang zittrig – gleichwohl, er entspannte sich.
    Sie legte die Violine in den Kasten zurück. Plötzlich überfiel auch sie Mattigkeit. Sie senkte den Kopf und versuchte mit aller Macht zu verhindern, dass sie losheulte. Für ihre schmalen Schultern war das alles zu viel.
    Eine Hand näherte sich. Ein Finger berührte ihren Goldtropfen. Sie stockte.
    Sein kräftiger Arm zog sie hinab. Ruben hielt sie fest, zwang sie beinahe, ihren Kopf auf seine Schulter zu legen. Seine Finger kraulten ihr Haar. Seines kitzelte ihre Wange.
    «Nicht py’amati. Nicht Angst. Amely.»
    Ewig hätte sie so daliegen wollen.

2. Kapitel
    Er war ein unleidlicher Patient. Entweder lag er da, schlotterte und sandte ungesunde Hitze aus, oder er kämpfte sich auf die Füße und stöberte im Unterholz nach Essbarem. Was er brachte, ließ sie angewidert den Kopf schütteln. Einmal wenigstens bot er ihr etwas an, das sich nicht bewegte. Sie wagte es, die fremde Frucht zu essen, aber ihr Hunger wurde nur mehr angefacht. Meist kauerte Ruben in der schützenden Umarmung hüfthoher Wurzeln eines Kapokbaums und dämmerte vor sich hin. Im Schlaf redete er Unverständliches. Manchmal erzählte auch sie: von Berlin, von Automobilen, von einem Phonographen, den ihr Vater ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte, mit einer Aufnahme von Händels
Israel in Ägypten
. Sie erzählte vom Tiergarten, von der Hagenbeck’schen Exotenschau. Von berühmten Geigenbauerfamilien und bewegten Photographien, die sie vor zwei Jahren im Wintergarten-Varieté hatte bestaunen dürfen. Vom Apollo-Theater in Berlin und den Autogrammen, die sie sich dort erbettelt hatte. Ruben hörte ihrem Geplauder interessiert zu und betrachtete eingehend den in Glas gefassten Schmetterling. In solchen Momenten konnte sie in dem Wilden, der er geworden war, das Kind von damals erkennen.
    Er
war
wild. Er schlug ihre Hand beiseite, als sie seine Anhänger berühren wollte – sie hatte den Eindruck, dass er gar nicht wusste, was er da mit sich herumtrug.
    Seine Waffen wollte er immer bei sich haben. Allen Ernstes schien er zu glauben, jederzeit zu einem Kampf imstande zu sein. Den Revolver hielt sie im Geigenkasten verborgen. Wer wusste schon, was er damit anstellen würde?
    Immer wieder hielt er die verschränkten Hände vor die Lippen und blies hinein. Das vogelähnliche Geräusch schrillte in ihren Ohren.
    «Kó’aq ou – Jäger kommen», erklärte er.
    Und sie kamen.
    Zwei Männer in einem großen Einbaum; eine Frau in einem kleineren. Die Boote glitten unter blühenden Weiden hindurch, knirschten über den Sand. Geduckt sprangen die Indios heraus, witterten, sahen sich wachsam um. Ihr Schmuck, ihre dunklen Haare ähnelten einander; offenbar gehörten sie zu jenem Stamm, zu dem sich Ruben zugehörig fühlte. Einer hielt Wache, während der andere und die Frau neben Ruben knieten und seine Wunde begutachteten. Leise sprachen sie miteinander. Ruben deutete auf Amely.
    Sie erhob sich, als die Frau geschmeidig auf sie

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