Die Bucht des grünen Mondes
ihm fortgepaddelt, in jenem so urzeitlich wirkenden Einbaum dort. Und dann? Die Strömung hatte sie in Richtung des Hafens getrieben. Und mit einem Mal hatten sie sich in einem Pulk beleuchteter Boote wiedergefunden.
Seht, Yacurona hat sich einen Indio gefangen.
Yacurona? Das ist nur eine Frau.
Siehst du nicht den Boto, wie er ihren Einbaum umkreist?
Yacurona! Yemanjá! Wohin möchtest du?
Und sie hatte halb im Schlaf geantwortet: Zur Bucht des grünen Mondes.
Sie musste nach Ruben sehen. «Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht tot sein», flüsterte sie und drehte vorsichtig den Kopf, in Erwartung eines kalten Leichnams.
Der Sand war aufgewühlt. Eine Spur verriet, wo sich Ruben hingeschleppt hatte. Amely sprang auf und folgte ihr, sorgsam auf jede Bewegung zu ihren bloßen Füßen achtend. Dem Himmel sei Dank! Dort hockte er, an einen Stamm gelehnt, und atmete schwer. Eine Hand hielt er seitlich auf den Unterleib gepresst; die andere fing zerkaute Blätter auf, die er ausspuckte. Offenbar wollte er dieses Zeug auf die Wunde auftragen. Amely kauerte neben ihm. Er ließ es zu, dass sie seine Hand beiseiteschob und die wunde Stelle betastete.
«Die Kugel ist wieder ausgetreten», sagte sie. Da sich zwei Handbreiten hinter dem ersten Schussloch ein zweites befand, täuschte sie sich wohl nicht. «Es scheint kein Organ verletzt zu sein.» Sie versuchte heiter zu klingen. «Andernfalls würdest du mich nicht so wach und misstrauisch anschauen, nicht wahr?»
Er antwortete mit verächtlichem Schnauben. Wahrscheinlich hatte er kein Wort verstanden.
Wenn sie nur wüsste, was sie tun könnte. Sie hätte sich mit ihm zum Hafen treiben lassen sollen; dort hätte er ärztliche Hilfe bekommen. Aber vielleicht auch nicht, wer half schon einem Indio? Amely überwand sich, einen Streifen vom Saum ihres Nachthemdes zu reißen – unschicklicher konnte ihre Lage ohnehin nicht mehr werden. Sie half ihm, den zerkauten Pflanzenbrei auf die blutenden Löcher aufzutragen und die Streifen darumzuwickeln.
«Schade, dass wir keinen Gin haben. Der wäre zum Desinfizieren jetzt sicher nicht schlecht. Fieberst du?» Sie berührte seine Stirn.
Ob er blass war oder nicht, vermochte sie nicht zu sagen; seine tiefgebräunte Haut besaß fast den bräunlichen Goldton der Indios. Vom blonden Haar abgesehen, war er nach dem dunklen Typ seiner Mutter gekommen.
Weißt du, was mich freut? Dass du das blonde Haar von deinem Vater hast – und sonst nichts. Du siehst ihm gar nicht ähnlich
.
Zweifellos war Ruben der ungewöhnlichste Indio, den sie je erblickt hatte. Er war groß, voller Kraft und Stolz – das genaue Gegenteil der Indianer aus der Stadt. Eher glich er mit all seinem bunten Federschmuck den Illustrationen aus Humboldts Reisebuch. Um die Hüften lag ein handbreiter Gürtel aus fingerdicken, farbenfrohen Schnüren. Ebensolche Schnüre verbargen knapp seine Männlichkeit. Überall hatte er kleine Narben, von Dornen, Krallen und vielleicht Messerklingen. Quer über seinen Hals zogen sich zwei größere Narben, als hätten ihm feindliche Indios im Kampf die Kehle durchschneiden wollen. In den Ohrmuscheln steckten Knochennadeln.
Das Erstaunlichste an ihm waren jedoch die Tätowierungen, die seine Schultern, Arme, den Rücken und einen Teil der Brust bedeckten. Stilisierte Federn, als habe er irgendwann beschlossen, mehr ein Vogel denn ein Mensch zu sein.
«Maria trifft der Schlag, wenn sie dich sieht», sagte Amely.
Er hob fragend die Lider.
«Die Schwarze Maria. Ganz bestimmt hat sie dir irgendwann einmal den Hintern versohlt. Und Herr Oliveira? Ganz bestimmt hast du auf seinen Knien gesessen, und er hat dir erklärt, dass man vor kleineren Skorpionen mehr Angst haben muss als vor den großen.»
Aber er ließ nur den Kopf sinken und schloss die Augen.
«Du bist Kilian Wittstocks Sohn. Deine Mutter hieß Madonna Delma Gonçalves.»
Sie sagte es immer wieder, während sie scheinbar nutzlose Dinge tat: die restlichen von ihm gesammelten Blätter zerkauen und auf seine Verletzung auftragen; weitere Fetzen von ihrem Nachthemd reißen, bis ihre Knie sichtbar wurden. Zwar hörte die Wunde zu bluten auf, doch ihre Ränder waren geschwollen und gerötet, und Ruben fieberte. Und wenn sie es ihm zum unzähligsten Mal vorgeplappert hatte – vielleicht um selbst nicht Teil dieser Wildnis zu werden –, fragte sie sich, ob Wunden, die man mit Worten aufriss, nicht ebenfalls gefährlich waren.
Der Morgen wich der Mittagshitze. Auf Rubens
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