Die Buecher und das Paradies
an Cardarelli. Ich kann nicht mehr rekonstruieren, ob es der Drang nach Poesie war (zur selben Zeit entdeckte ich Chopin), der das Erwachen meiner ersten, uneingestandenen und platonischen Liebe determinierte, oder umgekehrt. Die Verbindung war in jedem Fall desaströs, und nicht einmal die zärtlichste und narzißtischste Nostalgie erlaubt mir heute, zu jenen Versuchen zurückzukehren, ohne tiefe und begründete Scham zu empfinden. Doch aus jener Erfahrung muß mir auch eine strenge kritische Moralität erwachsen sein: jene, die mich im Laufe weniger Jahre zu der Erkenntnis brachte, daß meine Lyrik denselben funktionalen Ursprung und dieselbe formale Konfiguration wie die
Pubertätsakne hatte. Daher die Entscheidung (an die ich mich drei Jahrzehnte lang gehalten habe), vom sogenannten kreativen Schreiben abzulassen und mich auf die philosophische Reflexion und die essayistische Tätigkeit zu beschränken.
Der Essayist und der Erzähler
Eine Entscheidung, die ich über dreißig Jahre lang nie bedauert habe. Soll heißen, ich habe nicht zu denen gehört, die dazu verurteilt sind, wissenschaftliche Bücher zu schreiben, während sie innerlich vom glühenden Wunsch verzehrt werden, in die Kunst überzuwechseln. Ich empfand mich durchaus als selbstverwirklicht, ja ich sah mit einem Anflug von platonischer Verachtung auf die Poeten herab und betrachtete sie als Gefangene ihrer Lüge, Nachahmer von Nachgeahmtem, unfähig zu jener Sicht der hyperuranischen Idee, mit der ich - als Philosoph -täglich keusch und gelassen zu verkehren das Gefühl hatte.
Tatsächlich war ich, wie ich mir heute bewußt mache, zur gleichen Zeit dabei, eine narrative Passion zu befriedigen, ohne es zu bemerken, und zwar auf drei Arten. Erstens durch eine ständige Übung in mündlichem Erzählen (mir fehlten sehr meine jüngeren Geschwister, denen ich, als sie größer wurden, keine Märchen mehr erzählen konnte). Zweitens durch das Spiel mit literarischen Parodien und pastiches verschiedener Art (die sich in meinem Ende der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre entstandenen Diario minime? niedergeschlagen haben). Und drittens, indem ich aus jedem kritischen Essay eine Erzählung machte. Diesen Punkt muß ich genauer erklären, denn ich halte ihn für wesentlich zum Verständnis sowohl meiner essayistischen Tätigkeit als auch meiner (späten) Zukunft als Erzähler.
In der mündlichen Diskussion meiner Doktorarbeit über das Ästhetikproblem bei Thomas von Aquin war ich sehr verblüfft über einen Einwand des zweiten Berichterstatters (Augusto Guzzo, der dann jedoch meine Arbeit so publizierte, wie sie war): Im Grunde, sagte er, hast du die verschiedenen Phasen deiner Forschung so in Szene gesetzt, als ob es sich um eine kriminalistische Untersuchung handelte, mit Erörterung auch der falschen Fährten, der Hypothesen, die du später verworfen hast, während der reife Forscher diese Erfahrungen wegsteckt und der Öffentlichkeit in der Endfassung nur die Ergebnisse präsentiert. Ich gab zu, daß meine Arbeit ganz so war, wie er sagte, aber ich empfand das nicht als einen Mangel. Im Gegenteil, gerade damals gelangte ich zu der Überzeugung, daß jede Forschung auf diese Weise »erzählt« werden muß. Und so glaube ich es auch in allen meinen späteren theoretischen und essayistischen Werken getan zu haben.
Ich konnte also in Ruhe leben, ohne Geschichten zu schreiben, da ich meine narrative Passion de facto auf andere Weise befriedigte; und sollte ich doch einmal Geschichten schreiben, würden sie nichts anderes sein als Berichterstattungen über eine Recherche (nur daß man diese in der erzählenden Literatur eine quest oder quête nennt).
Womit fängt man an?
Im Alter zwischen sechsundvierzig und achtundvierzig habe ich meinen ersten Roman geschrieben, Der Name der Rose. Ich habe nicht vor, hier die Gründe (wie sagt man? die existentiellen?) zu erörtern, die mich dazu gebracht haben, einen ersten Roman zu schreiben; sie sind vielfältiger Art, vermutlich bestärken sie sich gegenseitig, und ich denke, wenn man die Lust verspürt, einen Roman zu schreiben, ist das Grund genug.
Eine der Fragen, die die Herausgeberin dieses Bandes den von ihr ausgewählten Autoren gestellt hat, lautet, welche Phasen es beim Hervorbringen eines Textes gebe. Die Frage impliziert glücklicherweise, daß der Schreibprozeß Phasen durchläuft. Gewöhnlich schwanken naive Interviewer zwischen zwei Überzeugungen, die einander wi der sprechen: einerseits,
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