Die Buecher und das Paradies
lästigen Zeitgenossen entledigt haben) benutzt eine Ausdrucksebene (das heißt Wörter, die sich in der Dichtung so schwer übersetzen lassen, weil auch ihr Klang zählt), um einen Inhalt wiederzugeben, das heißt die erzählten Tatsachen. Aber auf der Inhaltsebene können wir noch zwei weitere Elemente unterscheiden, die Fabel und den Plot.
Die Fabel von Rotkäppchen ist eine bloße Folge von Handlungen in chronologischer Ordnung - die Mutter schickt das Mädchen in den Wald, das Mädchen begegnet dem Wolf, der Wolf geht zum Haus der Großmutter, um
Rotkäppchen dort zu erwarten, verschlingt die Großmutter und zieht ihre Kleider an und so weiter. Der Plot kann diese Teile anders organisieren; zum Beispiel könnte die Erzählung damit beginnen, daß Rotkäppchen die Großmutter erblickt und sich über ihr Aussehen wundert, um dann zurückzublenden auf den Moment, da Rotkäppchen das elterliche Haus verläßt; oder damit, daß Rotkäppchen heil und gesund nach Hause zurückkehrt, sich beim Jäger bedankt und dann der Mutter die vorangegangenen Teile der Fabel erzählt .
Die Geschichte von Rotkäppchen ist so sehr auf die Fabel (und durch sie auf den Plot) konzentriert, daß sie in jedem Diskurs befriedigend wiedergegeben werden kann, also durch jeden beliebigen Ausdruck: durch Filmbilder, auf französisch, auf deutsch, oder auch als Comic (wie geschehen).
Ich habe mich verschiedentlich über die Beziehungen zwischen Ausdruck und Inhalt in der Gegenüberstellung von Prosa und Poesie ausgelassen. Nehmen wir die Verse: La Vispa Teresa / avea tra l’erbetta / al volo sorpresa / gentil farfalletta A ? Warum hat die Wepsige Teresa den netten Schmetterling beim Flug im niederen Gras (erbetta) überrascht und nicht in einem Gebüsch (cespuglio) oder zwischen Kletterblumen, auf denen sie den Blütenstaub, an dem sie sich berauscht, viel besser hätte aufsaugen können? Natürlich weil erbetta sich auf farfalletta reimt, während cespuglio einen guazzabuglio (Wirrwarr) nach sich ziehen würde. Das ist kein Spiel. Lassen wir die Vispa Teresa und wenden wir uns Montale zu: »Spesso il male di vivere ho incontrato: / era il rivo strozzato che gorgoglia, / era l ’incartocciarsi della foglia / riarsa, era il cavallo stramazzato ... « 3 Warum hat der Dichter von allen Symbolen oder Epiphanien des male di vivere ausgerechnet das verdorrte Blatt (foglia riarsa) gewählt und nicht irgendeine andere Erscheinungsform des Welkens und Todes? Warum »gurgelt« (gorgoglia) der gestaute Bach? Oder gurgelt er vielleicht und ist ein Bach, weil er das Erscheinen eben jener foglia vorbereiten soll? In jedem Fall hat allein die Notwendigkeit dieses Reims zu dem wunderbaren Enjambement jenes riarsa geführt, durch das im folgenden Vers die Agonie eines schon vegetalischen Lebens verlängert wird, so daß man es in den letzten Zuckungen beinahe röcheln hört.
Wäre jedoch (und hier spielen wir wirklich, zum Glück für die Geschichte der Poesie) vorher ein Bach eingeführt worden, der murmelt (borbotta), dann hätte das Übel des Lebens sich im Dunkel und in der Muffigkeit einer Höhle (grotta) manifestieren müssen.
Wenn es dagegen heißt: »Einst waren die Malavoglia zahlreich wie die Steine der alten Straße nach Trezza«, und »es gab sogar welche in Ognina und in Aci Castello« 4 , dann hätte Verga gewiß auch andere Ortsnamen wählen können (und vielleicht hätten ihm Montepulciano oder Viserba gefallen), aber seine Wahl war eingeschränkt durch seine Entscheidung, die Geschichte in Sizilien spielen zu lassen, und sogar der Vergleich mit den Steinen der Straße war durch die Natur des Ortes vorgegeben, die keine frischen, fast irisch grünen Wiesen mit erbetta erlaubte.
Kurzum, in der Poesie ist es die Wahl des Ausdrucks, die den Inhalt bestimmt, während es in der Prosa umgekehrt die Welt ist, die man wählt, mitsamt allem, was in dieser Welt geschieht, die uns den Rhythmus, den Stil und sogar die Wortwahl aufzwingt.
Gleichwohl wäre es falsch zu sagen, daß in der Poesie der Inhalt (und mit ihm das Verhältnis zwischen Fabel und Plot) irrelevant sei. Um nur ein Beispiel zu bringen, in Leopardis Gedicht A Silvia gibt es eine Fabel (es lebte einmal ein Mädchen, das so und so war, der Dichter liebte es, aber es ist gestorben, und nun ruft der Dichter es an), und es gibt einen Plot (der Dichter tritt auf, als das Mädchen bereits tot ist, und läßt es in seiner Erinnerung Wiederaufleben). Es genügt nicht zu sagen, in einer
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