Die Buecher und das Paradies
Moral verkörpern.
Die Männer verkörpern den Sieg der Materie über den Geist, so wie die Frauen den Sieg des Geistes über die Moral verkörpern.
Die Wahrheit ist, daß im Dorian Gray die Seichtheit Lord Wottons in Szene gesetzt und zugleich denunziert wird. Über ihn wird gesagt: »Hör ihm nicht zu, meine Liebe ... Er redet nie ernsthaft.« Über ihn sagt der Autor:
»Er spielte mit der Idee und versteifte sich immer mehr darauf; er warf sie in die Luft und verwandelte sie, ließ sie entkommen und fing sie wieder ein, machte sie schillernd vor Phantasie und geflügelt mit dem Paradox ... Er spürte, daß Dorian Grays Augen ihn fixierten, und das Bewußtsein, daß unter seinen Zuhörern einer war, den er faszinieren wollte, schien seinem Witz noch mehr Schärfe und seiner Phantasie noch mehr Farbe zu geben.«
Lord Wotton delektiert sich an dem, was er für Paradoxe hält, aber seine Bekannten haben keine besonders hohe Meinung von Paradoxen:
»Man sagt, wenn die guten Amerikaner sterben, gehen sie nach Paris«, feixte Sir Thomas, der über ein großes Repertoire an Aperçus aus zweiter Hand verfügte.
»Paradoxe passen auf ihre Art immer«, meinte der Baronet.
Es stimmt zwar, daß Mr. Erskine daraufhin sagt: »War das ein Paradox? Mir kam es nicht so vor. Aber vielleicht habe ich mich getäuscht. Nun, der Weg des Paradoxons ist der Weg der Wahrheit. Um die Wirklichkeit zu testen, muß man sie auf dem Seil tanzen sehen. Nur wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.« Mr. Erskine hat sich nicht getäuscht, aber Lord Henry geizt mit Paradoxen (da er nichts hat, woran er glauben kann), und was auf seinem Seil tanzt, ist der common sense, nicht die Wahrheit. Doch andererseits, was hat für Lord Henry schon Bedeutung?
»Und nun, mein lieber junger Freund - wenn Sie mir erlauben, Sie so zu nennen -, darf ich Sie fragen, ob Sie das alles wirklich meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?« - »Ich habe völlig vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry lächelnd. »War es so schlimm?«
Im Dorian Gray werden wenige wirklich schlimme Dinge gesagt und viele getan. Aber im Grunde tut Dorian sie, weil seine Freunde ihn mit ihren falschen Paradoxen verdorben haben. Am Ende ist dies die Lehre, die wir aus dem Roman ziehen können. Doch sogar diese Lehre würde Oscar Wilde verneinen, schließlich hat er in der Vorrede des Romans gesagt: »Der Künstler hat keine ethischen Überzeugungen. Eine ethische Überzeugung bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.« Und im Dorian Gray liegt der Stil in der Art, wie die Oberflächlichkeit in Szene gesetzt worden ist. Deshalb sollte man, auch wenn Oscar Wilde selbst dem von ihm zur Schau gestellten Zynismus, der seine Leser und Zuschauer entzückte, zum Opfer gefallen ist, ihm nicht das Unrecht antun, seine Aphorismen isoliert zu zitieren, als ob sie uns etwas lehren wollten oder könnten.
Wahr ist, daß einige seiner besten Paradoxa in jenen »Sätzen und Philosophien zum Gebrauch der Jungen« stehen, die er ebendeshalb als Lebensmaximen in einem Oxforder Studentenmagazin veröffentlich hat:
Die Bosheit ist ein von den Guten erfundener Mythos, um den eigenartigen Reiz der Nichtguten zu erklären.
Die Religionen sterben, sobald sich ihre Wahrheit erweist. Die Wissenschaft ist das Inventar der toten Religionen.
Gut erzogene Leute widersprechen den anderen. Die Weisen widersprechen sich selbst.
Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht der Gescheiterten.
Bei Prüfungen stellen die Dummen Fragen, auf welche die Weisen nicht antworten können.
Nur den großen Meistern des Stils gelingt es, immer unbemerkt durchzuschlüpfen.
Die erste Pflicht des Lebens ist es, so artifiziell wie möglich zu sein. Welches die zweite ist, weiß ich nicht.
Nichts, was wirklich geschieht, hat die geringste Bedeutung. Überdruß ist das höhere Alter der Ernsthaftigkeit.
Wenn man die Wahrheit sagt, ist man sicher, früher oder später entdeckt zu werden. Nur wer wenig Tiefe hat, erkennt sich selbst.
Doch in welchem Maße er diese Sätze als wahre Lehren ansah, sagt er in den Antworten, die er im Prozeß gab, als sie ihm vorgehalten wurden: »Ich denke selten, daß etwas von dem, was ich schreibe, wahr ist.« Oder: »Dies ist ein amüsantes Paradox, aber als Maxime kann ich ihm nicht viel Wert beimessen.« Andererseits, wenn es stimmt, daß eine Wahrheit »aufhört wahr zu sein, sobald mehr als eine Person an sie glaubt« - auf welchen
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