Die Buecher und das Paradies
in Prosa gewesen.
Das Bildnis des Dorian Gray wurde von den Londoner Richtern aus absolut törichten Gründen verurteilt, aber unter dem Gesichtspunkt der literarischen Originalität ist es bei allem Zauber, den es hat, nur eine Imitation von Balzacs Chagrinleder und eine weitgehende (auch indirekt eingestandene) Kopie von Huysmans’ Gegen den Strich. Mario Praz hat darauf hingewiesen, daß der Dorian Gray fast ebensoviel dem Monsieur de Phocas von Jean Lorrain verdankt, und sogar eine der Grundmaximen des Ästheten Wilde (»Kein Verbrechen ist vulgär, aber Vulgarität ist ein Verbrechen«) ist eine Übernahme von Baudelaires »Ein Dandy kann niemals ein vulgärer Mensch sein: Wenn er ein Delikt beginge, würde er nichts von seiner Reputation verlieren; wenn aber diesem Delikt ein banales Motiv unterläge, dann wäre die Schande irreparabel«.
Gleichwohl ist es mühsam, wie Alex Falzon in der erwähnten italienischen Aphorismen-Ausgabe schreibt, die Aphorismen eines Autors zu sammeln, der nie ein eigenes Aphorismenbuch geschrieben hat - denn die Sätze und Sprüche, die wir als solche betrachten, sind ja nicht isoliert entstanden, um außerhalb jedes Kontexts zu glänzen, sondern in narrativen oder szenischen Umgebungen und folglich als Aussprüche von bestimmten Personen unter bestimmten Umständen. Kann man zum Beispiel einen Aphorismus als schwach bezeichnen, den der Autor einer bewußt als seicht dargestellten Figur in den Mund legt? Ist es ein Aphorismus, wenn Lady Bracknell in The Importance of Being Earnest zu Algernon sagt: »Den Vater oder die Mutter zu verlieren kann als bedauerlicher Unglücksfall gelten. Beide zu verlieren, grenzt schon an Schlamperei«? Daher der begründete Verdacht, daß Wilde an keinen seiner Aphorismen glaubte und nicht einmal an die besten seiner Paradoxa, sondern einzig daran interessiert war, eine Gesellschaft vorzuführen, die solche Sprüche zu schätzen wußte.
Im übrigen sagt er das selbst. Man lese nur diesen Dialog in The Importance of Being Earnest:
Algernon: Alle Frauen ähneln mit der Zeit ihren Müttern. Das ist ihre Tragik. Aber nie ein Mann. Das ist seine Tragik.
Jack: Findest du das geistreich?
Algernon: Es ist perfekt formuliert. Und so zutreffend, wie man es unter kultivierten Leuten von einem Aperçu erwarten darf.
Darum sollte man Oscar Wilde nicht als einen liederlichen Aphoristiker ansehen, sondern als einen Satiriker und Kritiker der herrschenden Bräuche. Daß er dann in und mit diesen Bräuchen sehr gut zu leben verstand, ist eine andere Sache und war sein Pech.
Sehen wir das Bildnis des Dorian Gray einmal daraufhin durch. Bis auf wenige Ausnahmen werden die denkwürdigsten Aphorismen dem als seichten Salonlöwen porträtierten Lord Henry Wotton in den Mund gelegt.
Wilde präsentiert sie uns keineswegs als Lebensregeln, die er selber für richtig hielte.
Lord Henry formuliert, wenn auch mit Esprit, eine unerträgliche Reihe von Gemeinplätzen der viktorianischen Gesellschaft (und gerade deshalb delektierten sich Wildes Leser an seinen falschen Paradoxa): Ein Bischof sagt als Achtzigjähriger noch genau dasselbe, was man ihn als Achtzehnjährigen gelehrt hat. Das Gewöhnlichste wird begehrenswert, sobald man es versteckt. Der einzige Reiz der Ehe liegt darin, daß sie ein Leben in Täuschung für beide Teile unentbehrlich macht (später wird Lord Henry jedoch sagen, der wahre Nachteil der Ehe sei, daß sie selbstlos mache). Nicht einmal zehn Prozent der Proletarier leben rechtschaffen. Heutzutage bringt es ein gebrochenes Herz zu vielen Auflagen. Die Jungen möchten treu sein und sind es nicht, die Alten würden gern untreu sein und können es nicht. Nur wer seine Rechnungen bezahlt, braucht Geld, und ich bezahle meine nie. Ich möchte in England nichts ändern, nur das Klima. Um die eigene Jugend wiederzufinden, muß man nur dieselben Verrücktheiten wieder begehen. Männer heiraten aus Müdigkeit und Frauen aus Neugier. Keine Frau ist ein Genie, die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Frauen haben einen wunderbaren Sinn für die Praxis: wir vergessen oft, von Heirat zu sprechen, aber sie erinnern uns immer wieder daran. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich. Die wahre Tragik der Armen ist, daß sie sich nichts außer der Selbstaufopferung gönnen (wer weiß, ob Lord Henry das Kommunistische Manifest gelesen hatte und wußte, daß die Proletarier nichts zu verlieren haben als
Weitere Kostenlose Bücher