Die Buecher und das Paradies
sprechen.
Wenn man von einer Einflußbeziehung zwischen zwei Autoren A und B spricht, können zwei verschiedene Situationen vorliegen:
1.) A und B haben in derselben Zeit geschrieben. Wir könnten zum Beispiel diskutieren, ob es eine Einflußbeziehung zwischen Proust und Joyce gegeben hat. Es hat keine gegeben; die beiden sind sich nur einmal begegnet, und jeder hat über den anderen mehr oder weniger gesagt: »Er ist mir unsympathisch, ich habe wenig oder nichts von seinen Sachen gelesen.«
2.) A geht B zeitlich voraus, wie es beim Thema dieses Kongresses der Fall ist, weshalb die Diskussion nur den Einfluß von A auf B betrifft.
In beiden Fällen kann man jedoch über den Begriff des Einflusses in der Literatur, in der Philosophie und sogar in der wissenschaftlichen Forschung nicht sprechen, wenn man nicht ein Dreieck mit einem X an der Spitze zeichnet. Wollen wir dieses X allgemein »die Kultur« nennen, die Kette der vorausgegangenen Einflüsse? Um uns an die Sprechweise dieser Tage zu halten, werden wir es das Universum der Enzyklopädie nennen. Auf jeden Fall muß man dieses X bedenken, und das nirgends so sehr wie im Falle von Borges, der wie Joyce, wenn auch auf andere Weise, die universale Kultur als Spielfeld benutzt hat.
X
k ¿1 B
Das Verhältnis von A zu B kann sich auf verschiedene Weise bestimmen: 1.) B findet etwas im Werk von A und weiß nicht, daß X dahintersteht; 2.) B findet etwas im Werk von A und geht durch das Werk von A auf X zurück; 3.) B bezieht sich auf X und bemerkt erst später, daß X im Werk von A enthalten war.
Ich habe nicht vor, eine präzise Typologie meiner Beziehungen zu Borges aufzustellen, und ich werde nur einige fast zufällig herausgegriffene Beispiele zitieren. Andere mögen sie dann irgendwann auf die Ecken des Dreiecks verteilen. Außerdem sind diese Elemente oft miteinander vermischt, denn in den Begriff des Einflusses muß man auch den der Zeitbedingtheit der Erinnerung mit einbeziehen: Ein Autor kann sich sehr gut an etwas erinnern, was er bei einem anderen Autor im Jahre - sagen wir - 1958 gelesen hat, kann es dann 1980, während er etwas Eigenes schreibt, vergessen haben, und es 1990 wiederentdecken (oder sich plötzlich wieder daran erinnern). Man könnte eine Psychoanalyse der Beeinflussungen entwickeln. So hat man zum Beispiel in meinen Romanen Einflüsse gefunden, deren ich mir voll bewußt war, andere, die nicht stattgefunden haben konnten, da ich die betreffenden Quellen gar nicht kannte, und wieder andere, die mich überraschten, aber überzeugten - wie als Giorgio Celli in Der Name der Rose einen Einfluß der historischen Romane von Dmitri Mereshkowski entdeckte und ich zugeben mußte, daß ich diese Romane als Zwölfjähriger gelesen hatte, auch wenn mir das später völlig entfallen war.
Im übrigen ist das Diagramm nicht so einfach, denn außer A und B und der manchmal tausendjährigen Kette, die von X dargestellt wird, gibt es auch noch den Zeitgeist 7 . Der Zeitgeist muß nicht als metaphysischer oder metahistorischer Begriff aufgefaßt werden, ich denke, man kann ihn in eine Kette wechselseitiger Einflüsse zerlegen, aber das Besondere daran ist, daß er auch im Kopf eines Kindes am Werk sein kann. Vor einiger Zeit habe ich in alten Schubladen ein frühes Opus von mir gefunden, das ich als Zehnjähriger geschrieben hatte: das Tagebuch eines Zauberers, der sich als Entdecker, Kolonisator und Reformator einer Insel im arktischen Eismeer namens Ghianda ausgab. Heute wiedergelesen, scheint das eine sehr borgesianische Geschichte zu sein, aber es ist klar, daß ich als Zehnjähriger noch nicht Borges gelesen haben konnte (in einer fremden Sprache). Ebensowenig konnte ich die Utopien des 16., 17. oder 18. Jahrhunderts über ideale Gemeinschaften kennen. Aber ich hatte viele Abenteuerbücher gelesen, natürlich auch Märchen und sogar eine für Kinder eingerichtete Fassung von Gargantua und Pantagruel, und wer weiß, was für chemische Verbindungen sich in meiner Phantasie gebildet hatten.
Der Zeitgeist kann sogar an Umkehrungen des Zeitpfeils denken lassen. Ich erinnere mich, daß ich mit sechzehn Jahren (also etwa 1948) kleine Erzählungen über Planeten geschrieben hatte: Geschichten, deren Protagonisten die Erde oder der Mond waren oder Venus, die sich in die Sonne verliebte, und dergleichen. Es waren auf ihre Weise Cosmicomics. Ich amüsiere mich manchmal bei dem Gedanken, wie Calvino es angestellt haben mag, viele Jahre später in
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