Die Buecher und das Paradies
mit bizarr-absonderlicher Originalität und Verachtung für Modelle gleichgesetzt wird; aus dieser Vorstellung entwickeln sich dann sämtliche Ästhetiken der klassischen Avantgarde.
Ich würde zwei Autoren nennen, für welche Stil ein ausgeprägt semiotischer Begriff ist, nämlich Flaubert und Proust. Für Flaubert ist Stil ein Modus, das eigene Werk zu formen, und er ist sicherlich unwiederholbar, aber in ihm zeigt sich auch eine Art zu denken, eine bestimmte Sicht der Welt. Für Proust wird Stil zu einer Art transformierter Intelligenz, die sich in der Materie verkörpert, was so weit geht, daß für ihn Flaubert durch die neue Art, wie er die Tempora der französischen
Sprache gebraucht, das passé simple, das Perfekt, das Imperfekt und das Partizip Präsens, unsere Sicht der Welt fast so gründlich erneuert hat wie Immanuel Kant.
Aus diesen Quellen entspringt die Idee des Stils als Formbildungsweise (modo di formare), die im Zentrum der Ästhetik von Luigi Pareyson steht. Und es ist klar, daß an diesem Punkt der Entwicklung, wenn das Kunstwerk Form ist, die Formbildung nicht mehr allein den Wortschatz oder die Syntax betrifft (wie es bei der sogenannten Stilistik der Fall sein kann), sondern jede Strategie der Semiose, die sich sowohl an der Oberfläche wie auch in der Tiefe längs der Nervaturen eines Textes entfaltet.
Zum Stil (als Formbildungsweise) gehören dann nicht nur der Gebrauch der Sprache (oder der Farben oder der Töne, je nach den semiotischen Systemen oder Uni-versen), sondern auch die Disposition der narrativen Strukturen, die Zeichnung der Personen, die Artikulation von Gesichtspunkten.
Man lese die folgende Stelle von Proust, in seinen Remarques sur le style (1920), wo er behauptet, Stendhal habe sich weniger um einen gepflegten Stil gekümmert als Baudelaire. Proust legt hier nahe, daß Stendhal schlecht geschrieben habe, und das ist nichts Neues, wenn man unter Stil den Wortschatz und die Syntax versteht.
Wenn er von einer Landschaft gesagt hatte: »diese bezaubernde Gegend«, »diese hinreißende Gegend«, oder von einer seiner Heldinnen: »diese anbetungswürdige Frau«, wünschte er keine weitere Präzisierung. Es mangelte ihm so sehr an Stil, daß er schreiben konnte: »Sie schrieb ihm einen unendlichen Brief.« Betrachtet man als Bestandteil des Stils aber auch jenes unbewußte große Gerüst, das von der gewollten Anordnung der Ideen verdeckt wird, bei Stendhal existiert es. Welches Vergnügen würde mir der Nachweis bereiten, daß jedesmal, wenn Julien Sorel oder Fabrice die nichtigen Sorgen verlassen, um ein unbefangenes und wollüstiges Leben zu führen, sie sich stets an einem hochgelegenen Ort befinden (sei es im Gefängnis von Fabrice oder dem von Julien, oder auch im Observatorium des Abbe Blanes). 2
Von Stil zu sprechen heißt an diesem Punkt, von der Machart und Beschaffenheit eines Werkes zu sprechen, zu zeigen, wie es Gestalt angenommen hat (sei’s auch manchmal durch rein ideales Fortschreiten eines generativen Prozesses), zu zeigen, warum es sich einem bestimmten Rezeptionstypus anbietet, ja, mehr noch, wie und warum es diesen Typus hervorruft. Und - dies für diejenigen, die noch daran interessiert sind, ästhetische Werturteile abzugeben - nur indem man die höchsten Mittel und Manöver des Stils identifiziert, verfolgt und freilegt, kann man erklären, warum ein Werk schön ist, warum es im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Rezeptionen erfahren hat, warum es, obwohl Modellen und manchmal Vorschriften folgend, die im Meer der Intertextualität verstreut sind, deren Erbe in einer Weise hat annehmen und fruchtbar machen können, daß daraus etwas Originelles entstanden ist. Und warum es möglich ist, obwohl jedes einzelne der verschiedenen Werke eines Künstlers nach unwiederholbarer Originalität strebt, den persönlichen Stil dieses Künstlers in jedem seiner Werke wiederzufinden.
Wenn dem so ist, müssen wir, denke ich, zweierlei festhalten: erstens, daß eine Semiotik der Künste nichts anderes ist als eine Erforschung und Freilegung der Manöver des Stils, und zweitens, daß Semiotik die höhere Form der Stilistik darstellt, mithin das Modell jeder Kunstkritik.
Dem wäre eigentlich nichts mehr hinzuzufügen; alle erinnern sich noch, wie erhellend für viele Texte (die wir schon vorher dunkel liebten) manche Ausführungen von russischen Formalisten, von Roman Jakobson, von den Narratologen oder den Analytikern der poetischen Rede waren. Doch wir leben
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