Die Buecher und das Paradies
die sich mit Croce definieren lassen als die des artifex additus artifici und die des philosophus additus artifici (des »Künstlers als Geselle des Künstlers« und des »Philosophen/Theoretikers als Geselle des Künstlers«). Im ersten Fall gibt uns der Kritiker weniger eine Erklärung des Werkes als einen Bericht über seine Gefühle beim Lesen, er versucht unbewußt, das Objekt seiner demütigen Hingabe an Bravour zu übertreffen, und manchmal gelingt ihm das auch - wir alle kennen Ausführungen über Literatur, die literarisch schöner sind als die von ihnen besprochene Literatur, so wie Prousts
Ausführungen über schlechte Musik hochmusikalisch sind.
Im zweiten Fall versucht der Kritiker anhand bestimmter Kategorien und Urteilskriterien zu zeigen, warum das betreffende Werk schön ist. Doch wenn er eine Rezension schreibt, hat er nicht genügend Platz, um darzulegen, wie das Werk gebaut und beschaffen ist (und somit seine Stilmanöver freizulegen), und wenn er eine Literaturgeschichte schreibt, muß er seine Analyse notgedrungen in einem vorgegebenen Rahmen halten, kann sie also nicht über ein gewisses Maß hinaus vertiefen. Um jedoch den Stil einer einzigen Seite wirklich freizulegen, braucht man hundert Seiten, und in einer Literaturgeschichte ist das Verhältnis zwangsläufig umgekehrt.
Kommen wir nun zur dritten Gattung, der Textkritik. In ihr muß der Kritiker annehmen, daß der Leser nichts über das betreffende Werk weiß, auch wenn es sich um die Divina Commedia handelt. Er muß ihm das Werk Stück für Stück vor Augen führen, es ihn gleichsam zum ersten Male entdecken lassen. Wenn der Text nicht so kurz ist, daß man ihn in voller Länge zitieren kann, unterteilt nach Absätzen oder Versen, muß man voraussetzen, daß der Leser ihn auf andere Weise zur Hand hat, denn das Ziel dieser Art von Kritik ist, den Leser Schritt für Schritt entdecken zu lassen, wie der Text gebaut und beschaffen ist und warum er so funktioniert, wie er funktioniert. Dabei kann sich diese Kritik eine Bestätigung vornehmen (»jetzt werde ich zeigen, warum alle diesen Text für großartig halten«), eine Neubewertung oder auch die Zerstörung eines Mythos. Die Arten, in denen man zeigen kann, wie ein Text gebaut und beschaffen ist (und warum es gut ist, daß er so ist, und warum er gar nicht anders sein könnte und warum er gerade, weil er so und nicht anders ist, als hervorragend angesehen werden muß), können zahllos sein. Wie immer sie sich jedoch artikulieren, diese Kritik kann nur eine semiotische Textanalyse sein.
Daher kann man sagen, wenn wahre Kritik betreiben heißt, verstehen und verständlich machen, wie ein Text gebaut und beschaffen ist, und wenn die Rezension und die Literaturgeschichte das nicht im vollen Umfang leisten können, dann ist die einzige wahre Form der Kritik eine semiotische Lektüre des Textes.
Eine semiotische Lektüre des Textes hat von der wahren Kritik (die wie gesagt dazu führen muß, den Text in allen seinen Aspekten und Möglichkeiten zu verstehen), jene Qualität, die der Rezension und der Literaturgeschichte gewöhnlich notgedrungen fehlt: daß sie nicht be- oder verschreibt, in welcher Weise der Text Vergnügen bereitet, sondern darlegt, warum er Vergnügen bereiten kann.
Die rezensierende Kritik kann sich aufgrund ihrer Beratungsfunktion nicht davor drücken - außer in Fällen von exzeptioneller Feigheit -, ein Urteil über das abzugeben, was der Text aussagt. Die literarhistorische Kritik kann bestenfalls darlegen, daß ein Werk unterschiedliche und wechselnde Rezeptionen erfahren und verschiedene Reaktionen hervorgerufen hat. Die Textkritik, die immer semiotisch ist, auch wenn sie es nicht weiß oder es abstreitet, erfüllt dagegen jene Funktion, die Hume in seinem Essay »Of the Standard of Taste« aufs trefflichste beschrieben hat, indem er eine Stelle aus Don Quijote zitiert, wo Sancho Pansa erzählt:
Zwei meiner Verwandten wurden einmal gebeten, ihre Meinung über einen Faßwein zu äußern, der als hervorragend galt, weil er alt war und von einer guten Traube stammte. Einer von ihnen kostete, besann sich und urteilte nach reiflicher Überlegung, daß es guter Wein sei, gäbe es nicht jenen leichten Ledergeschmack, den er darin wahrnehme. Der andere, nachdem er die gleichen Maßnahmen getroffen, äußerte sich ebenfalls positiv über den Wein, aber mit dem Vorbehalt, es gebe da einen Geschmack nach Eisen, der deutlich zu spüren sei. Ihr könnt euch nicht vorstellen,
Weitere Kostenlose Bücher