Die Buecher und das Paradies
um keine persönlichen Erfahrungen auszubreiten, aber deren Modell ich anhand der Begegnung eines Schriftstellers früherer Zeiten mit Kritikern oder Journalisten von heute skizzieren möchte.
Nehmen wir an, der Schriftsteller sei Leopardi, und erfinden wir für ihn einen Dialog zwischen Dichter und Zeitungsseitenvollschreiber ...
»Signor Leopardi, es ist stimulierend und voller Widerhaken, daß Sie für einen kurzen Moment (nicht mehr als fünfzehn Verse) einen Diskurs über einen Hügel geführt haben, auf dem Sie über das Unendliche reflektieren. Warum ist dieser Hügel ermo (einsam)? Klar, ich denke, Sie wollten damit auf die Affäre der Hermen anspielen, die Alkibiades in einen Konflikt mit der Athener Regierung gebracht hat, und zugleich auf den Konflikt, der heute zwischen den Progressiven und den Anhängern von Forza Italia herrscht ...«
»Aber nein, der Hügel ist ermo, weil ich hier der Neigung zum Archaismus nachgegeben habe, und ich gebe zu, dies ist der häßlichste Vers meines kleinen Idylls; aber der Hügel ist mir wirklich lieb, weil ich in der Gegend geboren bin.«
»Und warum stellen Sie sich in Gedanken tiefste Ruhe vor? Sagen Sie nicht, das sei keine klare und deutliche Anspielung auf die aktuelle politische Situation, auf die Unruhe der Märkte, auf das Ungewisse Schicksal der Börsenkurse.«
»Hören Sie, ich habe das Gedicht L’Infinito zwischen Frühjahr und Herbst 1819 geschrieben, da konnte ich nicht gut auf Ihre heutige politische Situation anspielen. Gestatten Sie einem Dichter zu träumen, auf dem Gipfel eines Hügels, der fast aus Versehen ermo ist, aber in absolut wörtlichem Sinn: Da gibt es keinerlei Allegorie, und Metaphern gibt es nur vier, die zudem recht bescheiden sind: die tiefe Ruhe (aber auch Ihr Lakoff würde sagen, daß Verräumlichung eine alltägliche Art von Metaphorisierung ist), die toten Jahreszeiten (fast eine Katachrese), das Ertrinken meines Denkens und der Schiffbruch in einem Meer, das kein Meer ist ... Aber nirgendwo sonst ein Symbol und nirgendwo eine Allegorie. Die Poesie erstickt nicht in der Rhetorik und die Rhetorik nicht in der Gerichtsrede . Ich war dort, an jenem Tag, und sagte mir plötzlich: Mamma mia, das Unendliche .! Vielleicht ist daran nur symbolisch, daß ich es überhaupt geschrieben habe, obwohl kein Bedürfnis danach bestand. Aber dechiffrieren Sie nicht. Lassen sie meinen Moment der Schwäche so, wie er ist, lesen Sie’s nach, und dann lassen Sie sich Ihren Anteil für dieses Interview auszahlen.«
»Also bitte, Herr Graf, das können Sie uns doch nicht weismachen. Drei Jahre, bloße drei Jahre nach dem Wiener Kongreß, und Sie grübeln über zeitlose Hingabe und Verlassensein nach, indes Europa dabei ist, zu dem zu werden, was es heute ist . Erlauben Sie wenigstens uns, Ihren Text auf das hin abzuklopfen, was er wirklich besagt.«
Ende meines Spiels. Unfähig, das Symbol da aufzuspüren und zu identifizieren, wo es ist, vergiftet von der Kultur des Verdachts und der Verschwörung, suchen wir es auch dort, wo es sich nicht als Textmodus realisiert. Oder wo höchstens der Text als ganzer, nicht jeder einzelne Zug von ihm, seine irreduzible und zwanglose Beiläufigkeit, durch die er erscheint, wenn es niemand erwartet hätte, zu einem Symbol, wenn wir so wollen, der conditio humana wird.
In Wahrheit geht die massenmediale Welt nicht auf die Jagd nach Symbolen, denn sie hat deren Gabe und Gnade verloren. Beraubt eines Gottes, auf den wir anspielen können, suchen wir überall nach Allegorien, nach mysteriösen Verbindungen zwischen zwei auf die gleiche Art erstochenen Jungen (während uns die Statistiken sagen, daß zwei gleichartige Morde in zehn Jahren die Norm sind), nach blitzartigen Erleuchtungen im stumpfen Gewebe der Alltäglichkeit. Und dabei verlieren wir die Gabe, den symbolischen Modus dort zu erkennen, wo er sich einnistet.
Wo alles einen zweiten Sinn hat, ist alles unheilbar flach und stumpf. Die Sucht nach zweiten Bedeutungen zerrüttet unsere Fähigkeit, zweite oder tausendste Sinne dort zu erkennen, wo sie wirklich vorhanden sind oder angelegt waren.
Wir sind ja nicht einmal mehr imstande, die Enthüllung des wörtlichen Sinns zu genießen, die Verblüffung über das, was vorhanden ist, wenn das Höchstmaß an Vieldeutigkeit mit dem Mindestmaß an Tautologie zusammenfällt: a rose is a rose is a rose is a rose.
Der symbolische Modus steckt da, wo wir endlich die Lust am Dechiffrieren um jeden Preis verloren
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