Die Bücher vom Heiligen Gral. Der Erzfeind
ihren Namen rufen wollte, krachte der Donner erneut, so nah und so ohrenbetäubend, dass Thomas zur Seite fuhr, als hätte ihn ein Streitkolben getroffen. Er war barfuß und trug nichts außer einem langen Leinenhemd, das bereits vollkommen durchnässt war. Im Osten zerrissen Blitze den Himmel, und in der kurzen Helligkeit bemerkte er, dass die Pferde vor Angst zitterten. Er ging zu ihnen, strich ihnen beruhigend über die Nüstern und vergewisserte sich, dass die Tiere noch fest angebunden waren. «Geneviève!», rief er. «Geneviève!»
Dann sah er sie.
Oder vielmehr eine Vision. Er sah eine Frau, groß und schmal und nackt, die die Hände zum weißen Feuer des Himmels erhoben hatte. Der Blitz verlosch, doch das Bild der Frau hatte sich Thomas eingebrannt, und als der nächste Blitz über die Hügel zuckte, hatte Geneviève den Kopf zurückgelegt, und das Wasser tropfte aus ihrem offenen Haar wie flüssiges Silber.
Sie tanzte nackt unter den Blitzen.
Sie zeigte sich ihm nicht gerne nackt. Sie verabscheute die Narben, die Vater Roubert ihr in Arme und Beine und Rücken gesengt hatte, doch nun war sie nackt, und sie tanzte, langsam, das Gesicht in den Regen erhoben. Thomas beobachtete sie im Flackern der Blitze und dachte: Sie ist wirklich eine draga . Sie war die wilde, silbrige Kreatur der Nacht, die schimmernde Frau, schön und fremd und gefährlich. Thomas konnte den Blick nicht von ihr wenden, und gleichzeitig fürchtete er noch mehr um seine Seele, denn Vater Medous hatte gesagt, die dragas wären Kreaturen des Teufels. Dennoch liebte er sie. Thomas kauerte sich hin und kniff die Augen zu. Er wusste, er war verflucht, und dieses Wissen erfüllte ihn mit tiefer Hoffnungslosigkeit.
«Thomas.» Geneviève stand vor ihm, beugte sich hinunter und umfasste sein Gesicht. «Thomas.»
«Du bist eine draga », sagte er, ohne die Augen zu öffnen.
«Ich wünschte, es wäre so», erwiderte sie. «Dann würden Blumen wachsen, wo ich gehe. Aber ich bin keine draga . Ich habe nur unter den Blitzen getanzt, und der Donner hat zu mir gesprochen.»
Er erschauerte. «Was hat er gesagt?»
Sie legte tröstend die Arme um ihn. «Dass alles gut wird.»
Thomas schwieg.
«Alles wird gut», wiederholte Geneviève. «Der Donner lügt nicht, wenn man für ihn tanzt. Es ist ein Versprechen, mein Liebster. Alles wird gut.»
Guillaume d’Evecque hatte einen der feindlichen Soldaten nach Berat geschickt, um dem Grafen mitzuteilen, dass Joscelyn und dreizehn weitere Männer seine Gefangenen seien und über Lösegelder verhandelt werden müsse. Joscelyn hatte ihm zwar gesagt, sein Onkel sei nach Astarac geritten, doch d’Evecque nahm an, dass der alte Graf mittlerweile wieder in seiner Festung sein musste.
Doch das war er anscheinend nicht, denn vier Tage nachdem Thomas und Geneviève geflohen waren, kam ein Straßenhändler nach Castillon d’Arbizon und berichtete, der Graf von Berat liege vom Fieber geschüttelt, möglicherweise sogar sterbenskrank im Kloster St. Sévère. Der Soldat, der nach Berat entsandt worden war, kehrte am nächsten Tag mit derselben Botschaft zurück und fügte hinzu, dass niemand sonst in Berat ermächtigt war, über Joscelyns Freilassung zu verhandeln. Das Einzige, was Henri Courtois, der Kommandant der Garnison, für Joscelyn tun könne, sei, eine Nachricht nach Astarac zu schicken und zu hoffen, dass der Graf noch kräftig genug war, um die notwendigen Schritte einzuleiten.
«Und was machen wir jetzt?», fragte Robbie. Er war verärgert, denn er wollte so schnell wie möglich seinen Anteil am Lösegeld bekommen. Er saß mit Joscelyn im großen Saal. Es war spät am Abend, und sie waren allein. Im Kamin brannte ein Feuer.
Joscelyn schwieg.
Robbie zog die Stirn kraus. «Ich könnte Euch weiterverkaufen», überlegte er laut. Das war durchaus keine Seltenheit. Jemand machte einen Gefangenen, der ein beachtliches Lösegeld einbringen würde, doch statt auf das Geld zu warten, verkaufte er den Gefangenen an einen reichen Mann, der ihm eine geringere Summe auszahlte und dafür die langen Verhandlungen in Kauf nahm, bevor er seinen Gewinn kassierte.
Joscelyn nickte. «Das könntet Ihr tun, aber Ihr würdet nicht viel für mich bekommen.»
«Für den Erben des Grafen von Berat und den Herrn von Merville?» Robbie sah ihn ungläubig an. «Ihr seid einen Haufen Geld wert.»
«Merville ist eine Schweinesuhle», erwiderte Joscelyn verächtlich, «und für den Erben des Grafen gibt Euch niemand auch nur
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