Die Bücher vom Heiligen Gral. Der Erzfeind
ihr, die schwere Wolle über ein Gerüst aus Lärchenzweigen zu breiten. Dann setzte er sich hin, starrte in die Glut und dachte über sein düsteres Schicksal nach. Er erinnerte sich gut an die Bilder, die er an Kirchenwänden gesehen hatte: verzweifelte Seelen, die, begleitet von den hämischen Fratzen der Dämonen, in die lodernden Flammen stürzten.
«Du denkst an die Hölle», sagte Geneviève ruhig.
Er verzog das Gesicht. «Stimmt», erwiderte er und fragte sich, woher sie es wusste.
«Glaubst du wirklich, dass die Kirche die Macht besitzt, dich dorthin zu verbannen?» Als er nicht antwortete, schüttelte sie den Kopf. «Die Exkommunikation bedeutet gar nichts.»
«O doch», sagte Thomas düster. «Sie bedeutet: kein Himmel und kein Gott, keine Erlösung und keine Hoffnung.»
«Gott ist hier», widersprach Geneviève eindringlich. «Er ist in diesem Feuer, im Himmel, in der Luft. Kein Bischof kann dir Gott wegnehmen. Er kann nicht die Luft aus dem Himmel saugen!»
Thomas schwieg. Er dachte daran, wie der Stab des Bischofs auf das Pflaster geschlagen war, an den Klang der kleinen Glocke, der von den Burgwänden widergehallt hatte.
«Er hat nur Worte benutzt», fuhr Geneviève fort. «Und Worte sind billig. Mir haben sie das Gleiche gesagt, und in jener Nacht in der Zelle ist Gott zu mir gekommen.» Sie legte ein Stück Holz in das Feuer. «Ich habe nie geglaubt, dass ich sterben würde. Selbst als der Tag näherrückte, habe ich nicht daran geglaubt. Irgendetwas in mir wusste, dass es nicht so weit kommen würde. Dieses Etwas war Gott, Thomas. Gott ist überall. Er ist kein Hund an der Leine der Kirche.»
«Wir kennen Gott nur durch Seine Kirche», wandte Thomas ein. Der Mond und die wenigen Sterne waren hinter Wolken verschwunden, es begann wieder zu regnen, und vom anderen Ende des Tals grollte Donner herüber. «Und Gottes Kirche hat mich verurteilt.»
Geneviève nahm die Mäntel vom Gerüst und rollte sie zusammen, damit sie nicht wieder nass wurden. «Die meisten Menschen kennen Gott nicht durch die Kirche», sagte sie. «Sie gehen dorthin und lauschen einer Sprache, die sie nicht verstehen, sie sprechen ihre Beichte, nehmen an den Sakramenten teil und wollen, dass der Priester kommt, wenn sie im Sterben liegen. Aber wenn sie wirklich in Schwierigkeiten sind, suchen sie Schreine auf, von denen die Kirche nichts weiß. Sie verehren heilige Quellen, tief verborgen in den Wäldern. Sie gehen zu weisen Frauen oder Wahrsagern. Sie tragen Amulette. Sie beten zu ihrem eigenen Gott, ohne dass die Kirche je davon erfährt. Aber Gott weiß es, denn Er ist überall. Wozu brauchen die Menschen einen Priester, wenn Gott überall ist?»
«Um uns von Fehlern abzuhalten», sagte Thomas.
«Und wer entscheidet, was ein Fehler ist?», gab Geneviève zurück. «Die Priester! Glaubst du, dass du ein schlechter Mensch bist, Thomas?»
Thomas dachte über die Frage nach. Die oberflächliche Antwort lautete ja, denn die Kirche hatte ihn ausgestoßen und seine Seele den Dämonen überlassen, doch im Grunde fand er nicht, dass er schlecht war, und so schüttelte er den Kopf. «Nein.»
«Trotzdem verurteilt die Kirche dich! Ein Bischof spricht seine Formeln. Aber wer weiß, welche Sünden der Bischof begeht?»
Thomas musste lächeln. «Du bist eine Ketzerin», sagte er leise.
«Ja, das bin ich», erwiderte sie nüchtern. «Ich bin zwar keine Begine, obwohl ich mir das durchaus vorstellen könnte, aber ich bin eine Ketzerin, und mir bleibt auch gar nichts anderes übrig. Die Kirche hat mich ausgestoßen, wenn ich also Gott lieben will, muss ich es ohne die Kirche tun. Dasselbe gilt für dich jetzt auch, und du wirst feststellen, dass Gott dich noch immer liebt, wie sehr die Kirche dich auch hassen mag.»
Der Regen löschte die letzten Flammen, und sie zogen sich in ihre Hütte zurück, deckten sich mit ihren Mänteln und Kettenhemden zu und versuchten zu schlafen.
Thomas schlief unruhig. Er träumte von einer Schlacht, in der er von einem Riesen angegriffen wurde, der ein mächtiges Gebrüll ausstieß. Als er hochfuhr, stellte er fest, dass Geneviève fort und das Gebrüll in Wirklichkeit Donner war. Der Regen prasselte auf die Lärchenzweige und tropfte hinunter auf die Farne. Ein Blitz zuckte über den Himmel, gut sichtbar durch die Lücken in dem improvisierten Zweigdach. Thomas kroch aus der Hütte und tastete sich in der Finsternis zum Ausgang des verfallenen Hauses vor, um Geneviève zu suchen. Gerade als er
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