Die Bücherdiebin
Morgen, kurz nach zwei Uhr, schlief sie wieder ein, gehüllt in seinen Geruch. Es war eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, jahrzehntealtem Farbgeruch und menschlicher Haut. Zunächst saugte sie ihn auf, dann atmete sie ihn ein, bis sie wieder in den Schlaf glitt. Jeden Morgen hockte er, kaum zwei Meter von ihr entfernt, eingesunken und wie ein Taschenmesser zusammengeklappt auf dem Stuhl. Er legte sich nie in das zweite Bett. Liesel stand auf, küsste vorsichtig seine Wange, und er erwachte und lächelte.
An manchen Tagen schickte Papa sie nach dem Aufwachen zurück ins Bett und sagte ihr, sie solle einen Moment warten. Dann ging er das Akkordeon holen und spielte für sie. Liesel setzte sich in ihren Kissen auf und summte, die kalten Zehen vor freudiger Erregung gekrümmt. Noch nie zuvor hatte ihr jemand Musik geschenkt. Sie grinste, bis ihr schwindelig wurde, und betrachtete die Linien, die sich in seinem Gesicht hinabzogen, betrachtete das geschmolzene Metall seiner Augen - bis aus der Küche ein Fluchen zu hören war.
»HÖR MIT DIESEM KRACH AUF, SAUKERL!«
Papa spielte noch ein Weilchen länger.
Er zwinkerte dem Mädchen zu, und ungeschickt zwinkerte sie zurück.
Ein paar Mal, nur um Mama noch ein bisschen mehr zu ärgern, nahm er das Instrument mit in die Küche und spielte während des Frühstücks.
Dann blieb das Marmeladenbrot halb gegessen auf seinem Teller liegen, gezeichnet von seinen Bissspuren, und die Musik blickte Liesel ins Gesicht. Ich weiß, das hört sich seltsam an, aber so empfand sie es. Papas rechte Hand spazierte über die zahnfarbenen Tasten. Seine linke drückte die Knöpfe. (Sie liebte es, wenn er jenen silbernen, funkelnden Knopf drückte, das C-Dur.) Die zerkratzte und doch glänzend schwarze Schale des Akkordeons bewegte sich vor und zurück, während seine Arme die staubigen Blasebälge drückten, die Luft hineinsaugten und herauspressten. An diesen Tagen, frühmorgens in der Küche, erweckte Papa das Akkordeon wahrhaftig zum Leben. Ich denke, das ist einleuchtend, wenn man darüber nachdenkt.
Woher weiß man, ob etwas lebendig ist?
Man schaut nach, ob es atmet.
Der Klang des Akkordeons war außerdem ein Ausdruck von Sicherheit. Von helllichtem Tag. Am Tag konnte sie nicht von ihrem Bruder träumen. Liesel vermisste ihn, und in dem winzigen Badezimmer weinte sie oft, so leise wie möglich, aber sie war dennoch froh, wach zu sein.
In der ersten Nacht bei den Hubermanns hatte sie das letzte Bindeglied zu ihm - das Handbuch für Totengräber - unter der Matratze versteckt. Manchmal zog sie es hervor und betrachtete es. Sie starrte die Buchstaben auf dem Einband an und berührte die bedruckten Seiten, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was da geschrieben stand. Aber es war ja auch völlig ohne Bedeutung, wovon das Buch handelte. Wichtig war nur, was es ihr bedeutete.
DIE BEDEUTUNG DES BUCHES
1 . Das letzte Beisammensein mit ihrem Bruder.
2. Das letzte Beisammensein mit ihrer Mutter.
Manchmal flüsterte sie das Wort »Mama« und sah das Gesicht ihrer Mutter hundert Mal an einem einzigen Nachmittag. Aber dies waren unbedeutende Qualen im Vergleich zu den Schrecken ihrer Träume. In solchen Zeiten, in der Unendlichkeit des Schlafes, fühlte sie sich so allein wie nie zuvor.
Ihr habt sicher bemerkt, dass es keine anderen Kinder im Haus gab.
Die Hubermanns hatten zwei eigene Kinder, aber sie waren schon erwachsen und längst ausgezogen. Hans Hubermann junior arbeitete in der Münchener Innenstadt, und Trudi hatte eine Anstellung als Hausgehilfin. Bald schon würden beide in den Krieg ziehen. Die eine würde Munition herstellen, der andere damit schießen.
Wie ihr euch vorstellen könnt, war die Schule eine absolute Katastrophe.
Obwohl es eine staatliche Schule war, herrschte dort ein strenger katholischer Geist, und Liesel war Protestantin. Keine guten Voraussetzungen. Dann fand man heraus, dass sie weder lesen noch schreiben konnte.
Zu ihrer Beschämung steckte man sie zu den kleinen Kindern, die gerade erst das Alphabet lernten. Obwohl sie dünn und bleich war, fühlte sie sich wie ein Riese inmitten von madengroßen Wichtel n, und oft wünschte sie sich, dass sie noch blasser wäre und ganz verschwinden könnte.
Auch zu Hause konnte sie keine Unterstützung erwarten.
»Den musst du gar nicht erst fragen«, sagte Mama. »Den Saukerl.« Papa starrte aus dem Fenster, wie so oft. »Der hat die Schule nach der vierten Klasse verlassen.«
Ohne sich umzudrehen,
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