Die Bücherdiebin
Bürgersteig. Die Sirene war gerade verstummt. »Was jetzt?«
Michael zuckte mit den Schultern, orientierungslos, ratlos. Liesel setzte ihre Büchertasche ab und schaute ihn an. Sie musste schreien, um sich verständlich zu machen, weil genau in diesem Moment die nächste Sirene einsetzte. »Kann ich reingehen?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. Sie rannte den kurzen Weg entlang und schob sich an Mama vorbei.
Frau Holzinger saß ungerührt am Tisch.
Was soll ich sagen?, dachte Liesel.
Wie kriege ich sie dazu mitzukommen?
Die Sirenen holten wieder Atem, und sie hörte, wie Rosa nach ihr rief. »Lass sie einfach sitzen, Liesel, wir müssen gehen! Wenn sie sterben will, ist das ihre Sache.« Doch dann stießen die Sirenen wieder geräuschvoll die Luft aus. Sie stürzten nieder und begruben die Stimme unter sich.
Jetzt blieben nur noch der Lärm, das Mädchen und die drahtige Frau. »Frau Holzinger, bitte!«
Wie an dem Tag, als sie Ilsa Hermann gegenübergestanden hatte, während draußen Rudi mit dem Teller voller Plätzchen auf sie wartete, lag ihr auch nun eine Vielzahl von Worten und Sätzen auf der Zunge. Der Unterschied war, dass heute auch noch Bomben zugegen waren. Heute war die Sache etwas dringender.
DIE MÖGLICHKEITEN
»Frau Holzinger, wir müssen gehen.« »Frau Holzinger, wir werden sterben, wenn wir hierbleiben.« »Sie haben doch noch einen Sohn.« »Alle warten auf Sie.« »Die Bomben werden Sie in Stücke reißen.« »Wenn Sie nicht mitkommen, komme ich nicht mehr zum Vorlesen, und dann haben Sie den einzigen Freund verloren, den Sie noch hatten.«
Sie riskierte es mit dem letzten Satz und schrie die Worte direkt in die Sirenen hinein. Ihre Hände lagen auf dem Tisch.
Die Frau schaute auf und traf ihre Entscheidung. Sie rührte sich nicht.
Liesel ging. Sie löste sich vom Tisch und hastete aus dem Haus.
Rosa hielt ihr das Tor auf. Michael Holzinger war auf der Himmelstraße gestrandet.
»Komm mit!«, drängte ihn Rosa, aber der heimgekehrte Soldat zögerte. Er wollte gerade wieder hineingehen, als irgendetwas ihn dazu veranlasste, sich umzudrehen. Seine verstümmelte Hand war alles, was noch mit dem Tor in Verbindung blieb. Voller Scham zog er sie an sich und folgte Rosa und Liesel, die auf Haus Nummer 45 zurannten.
Alle drei schauten sich mehrmals um, aber da war keine Frau Holzinger.
Die Straße kam ihnen so breit vor, so endlos lang. Erst als die letzte Sirene sich in Luft auflöste, stolperten die drei in den Keller der Fiedlers.
»Wo wart ihr denn so lange?«, wollte Rudi wissen. Er hatte den Werkzeugkasten in der Hand.
Liesel stellte ihre Büchertasche ab und setzte sich darauf. »Wir wollten noch Frau Holzinger holen.«
Rudi schaute sich um. »Und? Wo ist sie?« »Zu Hause. In ihrer Küche.«
Im hintersten Winkel des Kellers stand Michael, verkrampft und zitternd. »Ich hätte bei ihr bleiben sollen«, sagte er, »ich hätte bei ihr bleiben sollen, ich hätte bei ihr bleiben sollen...«
Seine Stimme war fast lautlos, aber seine Augen schrien förmlich. Wild schlugen sie in ihren Höhlen, während er seine verletzte Hand drückte und eine Blutrose auf dem Verband erblühte.
Rosa versuchte, ihn zu beruhigen.
»Bitte, Michael, es ist nicht deine Schuld.«
Aber der junge Mann mit den wenigen verbliebenen Fingern an seiner rechten Hand war untröstlich. Er kroch in Rosas Augen.
»Können Sie mir erklären«, sagte er, »denn ich verstehe es nicht...« Er fiel zurück und kauerte sich hin, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. »Sagen Sie mir, Rosa, wieso sie da sitzen kann, bereit zu sterben, wenn ich doch immer noch leben will.« Das Blut verdickte sich. »Warum will ich leben? Ich sollte es nicht wollen, aber ich tue es.«
Minutenlang weinte der junge Mann unbeherrscht, während Rosas Hand auf seiner Schulter lag. Die Menschen im Keller schauten zu. Er konnte nicht aufhören zu weinen, auch nicht, als sich die Kellertür öffnete und schloss und Frau Holzinger eintrat.
Ihr Sohn schaute auf.
Rosa trat zur Seite.
Als sie einander fanden, entschuldigte sich Michael. »Mama, es tut mir leid, ich hätte bei dir bleiben sollen.«
Frau Holzinger hörte ihn nicht. Sie saß nur neben ihrem Sohn und hob seine bandagierte Hand an. »Du blutest wieder«, sagte sie. Dann saßen sie da, wie alle anderen auch, und warteten.
Liesel griff in ihre Tasche und kramte durch die Bücher.
DAS BOMBARDEMENT VON MÜNCHEN AM 9. UND 10. MÄRZ
Die Nacht wurde lang, angefüllt mit Bomben
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