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Die Bücherdiebin

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Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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nachdem euch jemand ins Gesicht geschlagen hat. Dann stellt euch vor, ihr müsstet das den ganzen Tag lang tun, vierundzwanzig Stunden lang, Tag für Tag.
    So war es, wenn man einen Juden versteckte.
    Die Tage verwandelten sich in Wochen, und es herrschte inzwischen eine niedergedrückte Akzeptanz dessen, was passiert war - das Ergebnis einer Addition aus Krieg, einem Mann, der sein Versprechen hielt, und einem Akkordeon. Zudem hatten die Hubermanns im Verlauf eines halben Jahres einen Sohn verloren und dafür einen Ersatz bekommen, der sie in eine unermesslich bedrohliche Lage gebracht hatte.
    Was Liesel am meisten erschreckte, war die Wandlung, die mit Mama vonstatten ging. Ob es die berechnende Art war, wie sie das Essen aufteilte, ihr einigermaßen gemäßigtes Mundwerk oder die Sanftheit, die sich auf ihrem Pappegesicht breitmachte - eines war klar:
    EINE EIGENSCHAFT VON ROSA HUBERMANN
    Sie war eine Frau, die einer Krise gewachsen war.
    Selbst als die arthritische Helena Schmidt den Auftrag für das Waschen und Bügeln stornierte, etwa einen Monat nach Max' Auftauchen in der Himmelstraße, setzte sie sich einfach an den Tisch und zog den Teller zu sich. »Die Suppe ist gut heute Abend.«
    Die Suppe war schrecklich.
    Jeden Morgen, wenn sich Liesel auf den Schulweg machte, oder an den Tagen, an denen sie zum Fußballspielen hinausging oder die spärlich gewordenen Wäschekunden abklapperte, nahm Rosa sie beiseite. »Und denk dran, Liesel ...« Sie legte den Finger an den Mund, mehr nicht. Wenn Liesel nickte, sagte sie: »Gutes Mädchen. Und jetzt ab mit dir, Saumensch.«
    Sie machte Papa und jetzt auch Mama Ehre: Sie war ein gutes Mädchen. Sie hielt den Mund, wohin sie auch ging. Das Geheimnis lag tief in ihr vergraben.
    Sie ging mit Rudi durch die Stadt wie immer und hörte sich sein Geplapper an. Manchmal verglichen sie Erlebnisse aus ihren jeweiligen Hitlerjugend-Einheiten. Rudi erwähnte zum ersten Mal einen sadistischen Anführer namens Franz Deutscher. Von da an sprach er oft über Deutschers Gemeinheiten; ansonsten redete er fast nur noch über Fußball und erging sich in endlosen Beschreibungen des jüngsten Tors, das er im Stadion in der Himmelstraße geschossen hatte.
    »Ich weiß«, versicherte ihm Liesel dann. »Ich war dabei.« »Na und?«
    »Ich hab's gesehen, Saukerl.«
    »Woher soll ich das wissen? Du hättest genauso gut auf dem Boden liegen und den Dreck schlucken können, den ich gerade aufgewirbelt hatte, als ich das Tor schoss.«
    Vielleicht war es Rudi mit seinem dummen Gerede, seinem zitronensaftigen Haar und seiner Unverschämtheit, der sie am Boden hielt, der ihr half, nicht durchzudrehen.
    Er strahlte eine Art von Urvertrauen aus, dass das Leben nur ein Spaß war - eine endlose Abfolge von Fußballspielen, Schwindeleien und einem unerschöpflichen Repertoire an sinnlosem Geschnatter.
    Und da war auch noch die Frau des Bürgermeisters und die Zeiten, in denen Liesel in der Bibliothek saß und las. Es war jetzt kalt dort, wurde bei jedem Besuch kälter, und doch konnte Liesel nicht fernbleiben. Sie suchte sich jedes Mal eine Handvoll Bücher aus und las in jedem kurze Abschnitte, bis sie eines Nachmittags ein Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Es hieß Der Pfeifer.
    Sie fühlte sich gleich von dem Buch angezogen, weil es sie an die gelegentlichen Begegnungen mit Pfiffikus in der Himmelstraße erinnerte. Sie hatte sein Bild im Kopf, wie er in seinem Mantel gebückt durch die Straße ging und wie er ihr beim Freudenfeuer an Hitlers Geburtstag erschienen war.
    Das erste Ereignis in dem Buch war ein Mord. Jemand wurde erstochen. In einer Straße in Wien. Nicht weit vom Stephansdom entfernt.
    EI N KURZER AUSZUG AUS DER PFEIFER
    Sie lag da, furchtsam, in einer Lache aus Blut. Eine seltsame Melodie sang in ihrem Ohr. Sie erinnerte sich an das
    Messer, rein und raus, und an ein Lächeln. Wie immer hatte der Pfeifer gelächelt, als er davongerannt war, in eine dunkle und mörderische Nacht...
    Liesel war sich nicht sicher, ob die Worte oder das offene Fenster der Grund dafür waren, dass sie schauderte. Jedes Mal, wenn sie Wäsche im Haus des Bürgermeisters abholte oder sie hinbrachte, las sie zitternd drei Seiten, länger ertrug sie es nicht.
    Max Vandenburg ging es ähnlich. Auch er konnte den Keller nicht mehr viel länger ertragen. Er beklagte sich nicht - dazu hatte er nicht das Recht -, aber er fühlte, wie er langsam in der Kälte verrottete. Wie sich herausstellte, sollte er seine

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