Die Bücherdiebin
Rettung dem Lesen und Schreiben verdanken und einem Buch mit dem Titel Das Schulterzucken.
»Liesel«, sagte Hans eines Abends, »komm mit.«
Max' Ankunft hatte die Leseübungen von Liesel und ihrem Papa unterbrochen. Hans Hubermann war der Meinung, dass es Zeit sei, damit fortzufahren. »Na komm«, sagte er zu ihr. »Ich will nicht, dass du alles wieder vergisst. Geh, hol eines deiner Bücher. Wie wär's mit dem Sch ulterzuckeh? «
Als sie mit dem Buch in der Hand zurückkehrte, bedeutete Papa ihr zu ihrer Entgeisterung, ihm in ihr altes Arbeitszimmer zu folgen. In den Keller.
»Aber Papa«, versuchte sie einzuwenden. »Wir können doch nicht...«
»Warum nicht? Hockt da unten ein Ungeheuer?«
Es war früh im Dezember, und der Tag war eiskalt gewesen. Der Keller wurde mit jedem Schritt auf den Zementstufen unfreundlicher.
»Es ist zu kalt, Papa.«
»Das hat dich früher doch auch nicht gestört.« »Aber so kalt war es früher nicht...«
Als sie unten angekommen waren, fragte Papa Max leise: »Können wir uns bitte die Lampe ausborgen?«
Mit klammen Händen wurden die Tücher und Farbeimer zur Seite gerückt und das Licht hinausgereicht. Hans schaute in die Kerosinflamme und schüttelte den Kopf. Dann ließ er Worte folgen: »Es ist ja Wahnsinn, nicht wahr?« Ehe die Hände von innen die Lumpen wieder zurechtrücken konnten, ergriff Hans eine davon. »Bitte, kommen Sie auch, Max. Bitte.«
Da wurden die Lumpen langsam beiseitegedrückt, und Max Vandenburg erschien, Körper und Gesicht bleich und ausgemergelt. In dem feuchten Licht stand er mit widerstrebendem Unbehagen da. Er zitterte.
Hans nahm seinen Arm, um ihn näher zu ziehen.
»Jesus, Maria und Josef. Sie können nicht hier unten bleiben. Sie erfrieren uns ja.« Er drehte sich um. »Liesel, mach die Badewanne voll. Nicht zu heiß! Nur handwarm.«
Liesel rannte hinauf.
»Jesus, Maria und Josef.«
Noch als sie im Flur ankam.
Liesel lauschte an der Tür zum Badezimmer. Max hockte in der winzigen Wanne, und Liesel stellte sich vor, wie das lauwarme Wasser sich in Dampf verwandelte, während es den Eisberg schmolz, zu dem sein Körper geworden war. Mama und Papa befanden sich im Wohnzimmer, auf dem Höhepunkt einer Debatte. Ihre leisen Stimmen verfingen sich in der Wand zum Flur.
»Er stirbt da unten, ich schwör's dir.«
»Aber was ist, wenn ihn jemand sieht?«
»Nein, nein, er kommt nur nachts nach oben. Tagsüber lassen wir alles auf - wir haben nichts zu verbergen. Und wir halten uns hier in diesem Zimmer auf, nicht mehr so oft in der Küche. Es ist besser, von der Tür wegzubleiben.«
Stille.
Dann Mama: »Also schön... Ja, du hast recht.«
»Wenn wir es schon mit einem Juden riskieren«, sagte Papa kurz darauf, »soll es wenigstens ein lebendiger sein.« Von diesem Moment an war eine neue Routine geboren.
Jeden Abend wurde in Mamas und Papas Zimmer das Feuer angezündet, und Max kam still und leise aus dem Keller herauf. Er saß in der Ecke, verkrampft und verunsichert durch die Freundlichkeit der Menschen, die Qual des Überlebens und vor allem durch die Großartigkeit der Wärme.
Die Vorhänge waren stets sorgfältig zugezogen. Er schlief auf dem Boden. Unter seinem Kopf lag ein Kissen. Das Feuer sank nieder und wandelte sich zu Asche.
Am Morgen kehrte er in den Keller zurück.
Ein stimmenloser Mensch.
Die jüdische Ratte kroch wieder in ihr Loch.
Weihnachten kam und ging, begleitet von dem Geruch von gesteigerter Gefahr. Wie erwartet, kam Hans junior nicht nach Hause (sowohl ein Segen als auch eine beunruhigende Enttäuschung), aber Trudi besuchte sie, wie immer. Glücklicherweise ging alles glatt.
Max blieb im Keller.
Trudi kam und ging wieder, ohne irgendetwas bemerkt zu haben.
Sie hatten beschlossen, dass Trudi, trotz ihrer Sanftmut, nicht ins Vertrauen gezogen werden durfte.
»Wir dürfen nur die einweihen, die unbedingt nötig sind«, sagte Papa. »Und das sind wir drei und sonst niemand.«
Max bekam eine Extraportion Essen und eine Entschuldigung, da Weihnachten ja nicht zu seiner Religion gehörte, ein Weihnachtsessen aber immerhin Tradition im Hause Hubermann war.
Max beklagte sich nicht.
Welchen Grund hätte er auch haben können?
Er erklärte, dass er zwar jüdischen Blutes sei und als Jude aufgewachsen, dass das Judentum aber heutzutage mehr als je zuvor ein Etikett war - ein verhängnisvolles Schild, an dem Pech klebte.
Bei dieser Gelegenheit teilte er den Hubermanns auch sein Bedauern mit, dass ihr Sohn
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