Die Buecherfluesterin
möchte nicht ungläubig aussehen oder klingen, bin aber machtlos dagegen. Offenbar hat der Mann gerade erst Lesen gelernt. Dabei ist er mindestens sechzig.
Er bekommt rote Flecken im Gesicht. Im nächsten Moment wirft er das Buch auf den Tisch und hastet zum Ausgang. Ich laufe ihm nach. » Sir, warten Sie!« Doch er ergreift, von Scham getrieben, die Flucht.
» Was sollte das denn eben?«, fragt Tony, der hinter mir steht. Er späht aus dem Fenster. » Was hast du zu ihm gesagt?«
» Ich habe mich erkundigt, ob das Bilderbuch für ihn selbst ist.«
» Spitze, Jasmine. Gut gemacht.« Tony verdreht die Augen.
» Der Arme. Soll ich ihm nachgehen?«
» Lass ihn nur. Der kommt wieder.«
Doch der Mann kehrt nicht zurück. Ich wünschte, ich würde seinen Namen kennen.
Vom Staub jucken mir die Augen. Außerdem zittere ich vor Kälte. Anscheinend ist die Heizung kaputt. Ich mache die beiden Fenster zu, die von allein aufgesprungen waren, nachdem ich daran herumgezerrt hatte.
Gerade will ich den Laden schließen, als eine schlanke, braungebrannte Frau in einem Doppelreiher-Regenmantel von Burberry hereingehastet kommt. Ihre Wangen sind gerötet. Sie ist knochig und durchtrainiert und hat kein überflüssiges Gramm Fett am Körper. » Hallo, Jasmine. Ich bin Lucia Peleran. Doktor Lucia Peleran. Willkommen zu Hause in Fairport. Ist die Stadt noch so, wie Sie sie in Erinnerung haben?«
Ich weiche lächelnd zurück. Woher weiß sie, wer ich bin? » Offenbar hat meine Tante Ihnen von mir erzählt.«
» Wir sind ja so froh, dass Sie wieder hier sind.« Während sie mein Gesicht eindringlich mustert, stelle ich fest, dass ihr Atem leicht nach Pfefferminz riecht. » Falls Sie je Probleme mit dem Rücken kriegen sollten, schauen Sie einfach bei Fairport Chiropractic herein. Dann sorge ich dafür, dass Sie sich wie neugeboren fühlen. Sie sehen aus, als könnten Sie ein Einrenken vertragen.«
Ich bewege die Schultern und drehe den Kopf hin und her. » Nein, alles bestens.«
Sie kräuselt die nachgezogenen Augenbrauen. » Keine Verspannungen? Man möchte doch meinen, dass eine Frau in Ihrer Situation ein paar verhärtete Stellen hat.«
» In meiner Situation?« Mir krampft sich der Magen zusammen. Wie viel weiß sie von mir?
Als sie mit ihrer mageren Hand wedelt, ähneln ihre Finger kahlen Zweigen an einem Busch ohne Blätter. » Wir haben das alle schon hinter uns, Schätzchen. Fast jede Frau in dieser Stadt.«
» Was meinen Sie denn damit?« Ich fühle mich gegen meinen Willen ins Rampenlicht gezerrt.
Sie beugt sich vor. » Gleich nach meiner Scheidung hatte ich auch eine schreckliche Verabredung. Der Typ wollte mit mir ins Bett. Und mir wurde klar, dass es einfach noch zu früh war.«
» Verzeihung.« Ich balle die Fäuste. » Aber ich habe kein Interesse daran, mein Privatleben zu erörtern.«
Doch sie lässt sich davon nicht beirren. » Ich musste zuerst achtsamer mit mir selbst umgehen. Schönheitsfarm. Whirlpool. Die Umstellung ist schwierig…«
» Ich fühle mich ausgezeichnet. Schließlich bin ich schon seit einem knappen Jahr solo.« Ich habe meiner Tante von meinem katastrophalen Versuch eines Rendezvous kurz nach der Trennung erzählt. Meine beste Freundin Carol hatte es arrangiert. Ich war mit meinem roten Kleid in der Autotür hängen geblieben und in Tränen ausgebrochen, bevor wir das Restaurant überhaupt erreicht hatten, sodass der arme Mann mich nach Hause bringen musste. Und jetzt hat meine Tante dieses sehr private Erlebnis mit einer wildfremden Frau besprochen. Ich werde sie umbringen.
» Es dauert eine Weile, bis der Schmerz nachlässt«, sagt Dr. Peleran. » Meine Aufgabe ist es nur, Ihre Wirbel zu befreien, damit Ihr Körper die Schäden heilen und die Knochen wieder in die richtige Position bringen kann. Das ist die dem Körper innewohnende Intelligenz.«
Die mir innewohnende Intelligenz rät mir, sofort die Flucht zu ergreifen. Offenbar kennt ganz Fairport meine intimsten Geheimnisse.
Ich hole tief Luft und lockere die Hände. » Möchten Sie vielleicht ein Buch kaufen?«
Sie schiebt sich an mir vorbei in die Abteilung Kochbücher. » Ich bin gerade aus Kalifornien zurück und habe dort ein Kochbuch gesehen, das ich unbedingt haben muss.«
» Wie hieß es denn?« Ich kann zwar ein Kochbuch nicht von einem Reiseführer unterscheiden, tue aber so, als wäre ich die nächste Rachael Ray oder Padma Lakshmi– oder wie die aktuellen weiblichen Kochgurus sonst noch heißen mögen.
Als
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