Die Buecherfluesterin
Menschen.
Kapitel 17
L
ucia Peleran erscheint als Erste zum Literaturzirkel. Sie trägt eine pastellfarbene Hose, einen überdimensionalen Pulli, der an einen Heißluftballon kurz vor dem Start erinnert, und weiße Turnschuhe.
Sie umfasst meine Hände mit ihren knochigen Klauen. » Wie fühlen Sie sich? Ich weiß, dass Ihnen das Leben jetzt nicht lebenswert erscheint, aber es gibt Hoffnung.« Offenbar hat sie das Kochbuchfiasko vergessen.
» Es geht mir blendend, vielen Dank.« Ich befreie meine Hände aus ihrem Griff. Am liebsten täte ich, als hätte ich vor, mir die Kehle aufzuschlitzen, nur um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Ich könnte auch ein Seil mit einer improvisierten Henkersschlinge über den Deckenbalken werfen.
Sie senkt die Stimme und pustet mir Pfefferminzatem ins Gesicht. » Ich habe genau dasselbe getan wie Sie, nämlich auf der einen Seite des Bettes zu schlafen, obwohl ich mich in einem ganzen Doppelbett hätte ausstrecken können. Schwierig, sich von alten Gewohnheiten aus Ehezeiten zu lösen, oder? Ich musste mich immer ganz klein machen, weil mein Ex so viel Platz brauchte. Das ist bei Männern eben so. Aber nach ein paar Monaten habe ich mir gesagt: Was soll’s? Meinetwegen kann ich diagonal schlafen, wenn ich Lust dazu habe. Ich kann meine Bücher auf die Decke werfen. Ich kann essen und krümeln. Und ich kann auf der Matratze herumhopsen.«
Hat meine Tante dieser fremden Frau etwa erzählt, dass ich auf einer Seite des Bettes schlafe? » Viel Spaß beim Rumhopsen. Ich schlafe lieber«, entgegne ich. » Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee? Kaffee?«
» Ich setze gleich den Kessel auf.« Mit einem strafenden Blick marschiert sie an mir vorbei.
Ich folge ihr in die Teeküche. Meine Schultern verspannen sich. » Ich kann doch den Tee machen.«
» Nicht nötig. Virginia trinkt ihren Tee stärker als gewöhnlich, um sich aufzumuntern. Ich weiß, wie sie ihn mag. Fünf Beutel Earl Grey. Heute Abend kommt sie auch. Ihrer Boutique geht es wegen der Wirtschaftslage nicht so gut. Ich habe ihr geraten, die Seidenblusen für neunhundert Dollar aus dem Sortiment zu nehmen. Das würde sicher etwas nützen.«
» Neunhundert Dollar?«
» Für die wohlhabende Kundschaft aus der Stadt.« Lucia hantiert in der Teeküche herum, setzt den Kessel auf und fördert Tassen und ein Tablett zutage. Ihre Kleider verschwimmen, und plötzlich trägt sie eine Schürze. Ihr Haar ist kraus und verschwitzt, als sie sich umdreht, um eine Platte mit Muffins auf die Anrichte zu stellen. Bunte Topfhandschuhe erscheinen an ihren Händen. Sie erinnern an grellrote Boxhandschuhe. Ich blinzle, und das Bild verschwindet. Sie hat wieder eine enge Hose und einen ballonartigen Pulli an und hält nichts weiter als eine Teetasse in der Hand.
Zweifelnd beäugt sie mich. » Alles in Ordnung? Sie sind so blass.«
» Bestens. Nur eine Frage. Backen Sie gern?«
» Backen? Was meinen Sie mit backen? Als ob ich Zeit für Hobbys hätte.«
» Sie haben doch ein Kochbuch gesucht. Ging es vielleicht um Gebäck und Nachspeisen?«
Ihre Augen weiten sich, und sie lässt beinahe die Teetasse fallen. » Woher wissen Sie das?«
Versuchen Sie es mit ›Kochen mit Pfiff‹, verkündet eine hohe Stimme. Eines meiner besten Werke.
» Verzeihung?« Ich wirble herum. Tony ist nicht hier. Also kann er es nicht sein, der die Stimmen nachahmt. » Wessen bestes Werk?«
» Was?«, fragt Lucia. » Ist das ein Buch?«
» Ich bin nicht sicher.« Meine Gedanken verwirren sich. Backen– wilde Mehlwolken und großzügige Zuckerportionen– ist ihr Geheimrezept, um den Schmerz zu heilen, der viel tiefer sitzt als bei mir. In einer dunklen Quelle in ihrem Innersten. Warum stürmen diese Gedanken auf mich ein?
Von außen betrachtet wirkt sie so lebendig, so… mit sich im Reinen. Sie verteilt lockere Ratschläge, wie ich mein Leben meistern soll. Und dennoch weiß ich, dass sie ohne Backen nicht überleben wird. Ohne den Geist von Julia Child.
» Sagen Sie mir Bescheid, wenn es Ihnen einfällt, meine Liebe.« Lucia lässt sich, die Teetasse in der Hand, aufs Sofa sinken, schlägt die Beine übereinander und wippt mit dem Fuß.
Kurz darauf rauscht eine hochgewachsene Frau herein, deren elegant fließender blau-weißer Hosenanzug an das schaumige Kielwasser eines Rennboots erinnert. Sie stellt sich als Virginia Langemack vor, schnappt sich eine Teetasse, setzt sich in einen Lehnsessel Lucia gegenüber und blickt sich naserümpfend um. Sie mustert die
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