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Die Buecherfluesterin

Die Buecherfluesterin

Titel: Die Buecherfluesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anjali Banerjee
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schenken. Eine gute Idee, finde ich.«
    » Gibt es in Indien noch andere Verwandte, die Geister sehen können?«
    » Nur du und ich.« Meine Tante entfaltet den nächsten Sari, diesmal einen, der so blaugrau ist wie das Meer im Nordwesten bei Sonnenuntergang. » Ganesh hat mir die Gabe verliehen, die Geister wahrzunehmen.«
    Ich halte mir den roten Sari an die Wange. Die Seide ist so glatt und weich. » Erzählst du mir jetzt endlich deine Geschichte?«
    » Ganesh hat mir das Leben gerettet. Bevor ich nach Amerika kam und Onkel Sanjoy kennengelernt habe, war ich schon einmal verheiratet.«
    » Du hattest vor Subhas schon zwei Ehemänner? Ma hat das nie erwähnt…«
    » Natürlich nicht.« Meine Tante hängt den dunklen Sari neben einen weißen in den Schrank– Tag und Nacht. » Mit meinem ersten Mann habe ich nur zwei Monate zusammengelebt. Er war ein schrecklicher Mensch.«
    » Hat er dich misshandelt?«
    Ihre Lippen zittern noch nach all den Jahren. » Kennst du das Mahabharata?«
    » Das tausendseitige Epos?«
    » Ja. Und Ganesh hat meinem Mann das Buch auf den Kopf fallen lassen.«
    » Was hat er?«
    » Genau auf den Kopf. Er ist umgekippt. Und dann erschien mir Ganesh, umgeben von einem überirdischen Licht. Sein runder Bauch bebte; sein Rüssel schwang hin und her. Als er das Wort ergriff, raunte seine Stimme in meinem Ohr wie der Wind. Dein Mann wird dir nichts mehr tun, verkündete er.«
    » Oh, Tante.«
    » Obwohl es schon so lange her ist, erinnere ich mich, als ob es gestern gewesen wäre. Ich weiß noch, dass ich in unserer Wohnung am Bücherregal lehnte. Draußen hupte ein Bus. Mein Mann lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken. Seine Lippen wurden bereits blau.«
    » Das Buch hat ihn getötet?«
    » Ganesh sagte zu mir : Er ist an einem Herzinfarkt gestorben. Das hat der Arzt letztlich dann auch festgestellt. Ich habe das schwere Buch aufgehoben und wieder ins Regal gestellt. Da ich damals an die Wohnung gefesselt war, hatte ich es schon fast durchgelesen.«
    » Dein Mann hat dich nicht aus dem Haus gelassen?« Ich bin entsetzt.
    » Bücher waren der einzige Luxus, den er mir gestattete. Und dann sagte Ganesh zu mir: Ich habe die neunzigtausend Verse des Mahabharata mit meinem eigenen abgebrochenen Stoßzahn geschrieben. Und dennoch haben die Menschen mich vergessen wie noch so viele Schriftsteller nach mir. Ich habe ihm versprochen, ihn nie zu vergessen. Wie sollte ich mich jemals erkenntlich zeigen? Schließlich hatte er mich befreit.« Tante Ruma hat Tränen in den Augen.
    » Erzähl weiter«, bitte ich sie leise.
    » Und als Nächstes sagte Ganesh zu mir: Du wirst deinen Traum von einem eigenen Buchladen wahrmachen. Doch du wirst die Gabe haben, die Geister verstorbener Schriftsteller zu sehen. Deine Pflicht wird es sein, sie durch ihr geschriebenes Wort am Leben zu erhalten, damit ihre Bücher niemals in Vergessenheit geraten. Ich habe geantwortet, dass ich das gerne tun würde. Und er erwiderte: Ich verleihe dir diese besondere Gabe der literarischen Wahrnehmung, die du an die starken Frauen in deiner Familie weitervererben wirst. Tochter, Nichte oder Enkelin – nur an die, die es wirklich verdient haben.«
    » Tante, das ist eine unglaubliche Geschichte.« Ich kann sie wirklich kaum glauben. Ein Hindu-Gott ist ihr erschienen und hat ihr den Auftrag erteilt, die Geister von Schriftstellern am Leben zu erhalten? Gehen sie wegen Ganesh in diesem Buchladen um?
    Meine Tante wischt sich die Tränen von den Wangen ab. » Ich habe ihm erklärt, dass ich nicht vorhätte, eine Tochter zu bekommen. Nach dem, was ich von meinem Mann hatte erdulden müssen, konnte ich mir nicht vorstellen, wieder zu heiraten. Aber Ganesh kicherte nur. Er sagte: Du wirst genesen, und vielleicht wirst du eine neue Liebe finden. Das Leben ist unberechenbar. Das waren seine Worte.«
    » Und du hast wieder geheiratet… » Ich fahre mit dem Finger über die kunstvoll eingewebte schimmernde Goldkante des Saris.
    » So ist es. Und dann teilte mir Ganesh noch etwas mit. Hier ist mein letztes Geschenk an dich auf dieser Reise. Deine Willenskraft und das Buch eines Autors kann einen Geist einen Tag und eine Nacht lang zum Leben erwecken. Nur ein einziges Mal. Und du wirst diese Gabe an eine Frau der nächsten Generation weitergeben. Im nächsten Moment war er in funkelnden Nebelschwaden verschwunden.«
    » Das ist ja eine wilde Geschichte.« Ich lache schrill auf. Mein Herz rast, und meine Hände sind feucht. Die

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