Die Buecherfluesterin
Sie garantieren, dass die Unternehmen keine Waren aus China importieren?«
» Wir tun unser Bestes, die Unternehmen, in die wir investieren, zu überprüfen.«
» Ich muss sagen, dass ich von Ihrer Präsentation beeindruckt bin.«
» Danke«, erwidere ich. Ich strahle. Scott ebenfalls.
» Jasmine ist ein Schatz«, meint er. » Sie hat viele Überstunden in dieses Projekt gesteckt.«
Ich werde von einem warmen Gefühl durchflutet. Die Collagenfrau nickt beifällig.
Ich beende meine Präsentation, schüttle allen die Hand und verabschiede mich.
» Gut gemacht«, lobt Scott und klopft mir auf den Rücken. » Jetzt gehen wir wieder an die Arbeit und warten wie immer ab.«
In meinem Büro stehen inzwischen ein Regal mit verschiedenen Romanen und Sachbüchern, eine Schale mit einem Duftpotpourri und Pflanzen. Allerdings ist die Wirkung begrenzt– es ist alles nur Kosmetik. Ich wünschte, die Fenster ließen sich öffnen. Dennoch versuche ich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Eine Stunde später erscheint Scott grinsend in der Tür. » Wir haben es geschafft. Sie haben sofort entschieden. Wir haben den Kunden.«
Ich falle fast vom Stuhl. » Wirklich?«
Er tritt ein, um mir die Hand zu schütteln. » Willkommen bei den dicken Fischen. Ausgezeichnete Präsentation. Der Urlaub hat Ihnen gutgetan. Dass ein Kunde sich so schnell entscheidet, habe ich bis jetzt noch nie erlebt.«
» Spitze! Danke.« In meinem Kopf dreht sich alles.
» Wir müssen ein größeres Büro für Sie finden.«
» Wirklich?« Ich grinse ihn überrascht an. » Danke.«
» Lassen Sie uns die Strategie besprechen. In einer halben Stunde haben wir eine Sitzung. Schön, dass Sie zurück sind.«
» Ich freue mich auch, wieder hier zu sein.« Ich habe es geschafft. Ich bin gut in meinem Job. Vielleicht werde ich jetzt ja sogar gleichberechtigte Partnerin meines Chefs. Ich kann es kaum erwarten, alle anzurufen, die ich kenne. Die Tante, Tony… wie gerne würde ich Connor anrufen.
Im Gehen wirft Scott einen Blick auf das Bücherregal. » Ich lese auch gern, hauptsächlich im Flugzeug, vor allem Thriller. Allerdings werden Sie mit dem neuen Kunden vermutlich nicht viel Zeit zum Lesen haben.« Er zwinkert mir zu und verschwindet.
Keine Zeit zum Lesen wegen des neuen Kunden. Für manche Menschen macht Lesen den Unterschied zwischen Glück und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung, Leben und Tod aus.
Ich lausche den Bürogeräuschen– dem Surren des Kopierers vor meiner Tür, dem leisen Brummen von Lüftung und Klimaanlage, dem blechernen Läuten der Telefone. Hin und wieder wehen Stimmen heran, die über Kunden und Konten sprechen. Es klingt tröstend und vertraut.
Ich habe das Konto.
Ich versuche, Ertragszahlen, Prozentsätze, Kurven und Tortengraphiken zu studieren, aber ich bin geistesabwesend. Also stehe ich auf und gehe zum Fenster. Auf der Betonbank im makellos gepflegten Firmengarten, ein kleines Paradies mit Palmen und Bougainvilleen, landet eine weiße kalifornische Möwe.
» Ich habe das Konto«, sage ich zu der Möwe. Sie sieht mich an und fliegt los. Ihre Flügel haben ein paar graue Stellen wie bei den Möwen auf Shelter Island. Vielleicht sucht sie ja den Weg nach Norden.
Ich stelle mir das Rauschen der Brandung auf der Insel und den wechselhaften Himmel vor. Hier erstreckt sich permanent eine durchgehend blaue Fläche bis in die Unendlichkeit.
Tränen treten mir in die Augen. Dumme, alberne, unerwünschte Tränen ohne jeden Grund. Eigentlich sollte ich doch Luftsprünge machen! Jetzt kann ich etwas fürs Alter auf die hohe Kante legen und mir vielleicht eine neue Eigentumswohnung kaufen.
Ich krame in meiner überdimensionalen Handtasche nach einem Taschentuch, um mir die Nase zu putzen. Auf dem Grund der Tasche berühren meine Finger etwas Flauschiges. Rasch ziehe ich die Hand zurück. Aber in der Tasche rührt sich nichts. Also greife ich wieder hinein und hole die Häschenohren aus der Kinderbuchabteilung heraus. Jemand muss sie mir in die Tasche gesteckt haben. Die Ohren sind um das alte, dünne, in Papier gebundene Buch gewickelt, das Connor mir geschenkt hat. Tamerlane und andere Gedichte von einem Bostoner.
Die Jugend ist hitzig …
Tränen treten mir in die Augen.
Unten auf der Seite stehen die Worte Calvin F.S. Thomas… Druckerei. 1827. Hat Connor versucht, mir etwas mitzuteilen?
Während der Arbeit gehen mir Gedichte im Kopf herum. Die Geister der Toten, die standen / Im Leben vor dir, sind zurück / Im Tode
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