Die Buecherfluesterin
ist gerade hereingekommen«, teile ich Lucia mit.
Sie drückt das Buch vor die Brust und hüpft im Kreis herum. » Das ist es, das ist es. Wie haben Sie es gefunden, Jasmine?«
» Das war nicht ich«, antworte ich und lächele Julia Childs unsichtbarem Geist zu.
Nachdem Lucia fort ist, erledige ich ein Telefonat, das ich schon vor Tagen hätte führen sollen. Eine halbe Stunde später betritt Professor Avery den Laden. Sein graues Haar ist wild zerzaust. Er berührt die Bücher in der Reiseabteilung. » Sie sagten, Sie hätten das Richtige für mich entdeckt?«
Magie im Mangohain leuchtet, wie es schon immer hätte leuchten sollen, und Rudyard Kipling raunt mir ins Ohr: T.S. Eliot hat mich falsch zitiert. Ich habe nie behauptet, dass man einen Ort riechen müsste, um ihn kennenzulernen.
» Hoffentlich gefällt es Ihnen in Indien«, sage ich und gebe dem Professor das Buch.
Beim Durchblättern strahlen seine Augen. » Das ist genau das Buch, das ich gesucht habe. Der Geruch! Riechen Sie auch die Düfte Indiens?«
» Ja«, erwidere ich. Und das stimmt auch.
Professor Avery umklammert das Buch mit runzeligen weißen Fingern, als enthielten die Seiten alle seine Hoffnungen. » Vielen, vielen Dank!« Er kann gar nicht schnell genug bezahlen und lässt zu viel Geld auf der Theke liegen, als er aus dem Laden hastet. Tony läuft ihm mit dem Wechselgeld hinterher.
Ich ziehe Connors Memoiren aus dem Regal, wo sie zwischen zwei neuen Büchern stehen, und nehme sie mit in die Teeküche. Ich glaube, ich möchte nicht, dass dieses Buch jemand anderem gehört. So kann ich ein kleines Erinnerungsstück an ihn behalten. Das Foto hinten auf dem Einband wirkt verblasst und weit entfernt. Doch ich spüre, dass Connor mich aus einer anderen Welt beobachtet.
Eine Frau steht in der Teeküche– sie ist majestätisch und wunderschön und trägt ein blaues Kleid. Es ist dieselbe Frau, die ich in meiner ersten Nacht in diesem Haus während des Sturms im Salon gesehen habe. Inzwischen erkenne ich sie.
» Die Beschreibungen von Ihnen entsprechen nicht den Tatsachen«, stelle ich fest. » Zumindest die, die ich gelesen habe. Und die letzte existierende Porträtzeichnung von Ihnen wird Ihnen auch nicht gerecht.«
Als sie durchs Zimmer gleitet, verschwimmen Ihre Konturen und werden dann wieder scharf. » Launisch, affektiert und ganz und gar nicht hübsch.« Es ist dieselbe Stimme, die ich bereits im Wäschezimmer gehört habe. Melodisch mit einem leichten britischen Akzent.
» Aber Sie sind nicht launisch«, erwidere ich.
» Das waren die Worte meiner Tante Phila. Sie war ausgesprochen kritikfreudig. Aber was kann man schon erwarten? Und Sie, Sie haben mich unscheinbar genannt…«
» Sie sind sehr hübsch. Viel hübscher als auf dem Bild.«
» Groß und schmal, aber nicht schlaff? So hat man mich auch geschildert.«
» Nein, ganz und gar nicht schlaff. Auch nicht unscheinbar. Jeder Mann würde sich in Sie verlieben…«
» Jeder bis auf Tom… »
» Tom Lefroy? Ist er je zu Ihnen zurückgekehrt?«
Traurig schüttelt sie den Kopf. » Tom und ich… wir haben uns nicht aus freien Stücken getrennt.« Sie gleitet zum Fenster und kehrt mir den Rücken zu. Ihre Einsamkeit durchdringt mich.
» Das tut mir leid. Ich weiß, was es heißt, jemanden zu verlieren. Wir klammern uns ans Nichts. An alles, was wir lieben und was uns dauerhaft erscheint. Und letztlich ist es irgendwann doch verschwunden.«
Als sie sich zu mir umdreht, stehen jahrhundertealte Tränen in ihren Augen. Ihre Umrisse verwandeln sich in eine vergilbte Daguerreotypie, Jane Austen, lange fort– ein fast vergessener Eindruck. » Verloren, dann gefunden. Wir lieben, und wir verlieren, aber wir können wieder lieben.« Sie tritt zurück in den Schatten, bis nur noch ihr Gesicht zu sehen ist wie der Mond am dunklen Himmel.
» Jasmine, da bist du ja.« Tony steckt den Kopf zur Tür herein. » Ein Junge will dich sprechen. Er sagt, er hätte das erste Narnia -Buch, das du ihm gegeben hast, ausgelesen, und er bräuchte ein neues.«
» Ja, ich weiß, welchen Jungen du meinst. Ich komme.« Ich wende mich zu Jane um, doch sie ist verschwunden. Nur eine leichte Brise weht durch ein halb geöffnetes Fenster herein.
Kapitel 39
A
n meinem letzten Tag im Laden sind meine Sachen gepackt. Ich bin bereit zum Aufbruch. Heute Nachmittag kommt meine Tante zurück. Sie wird feststellen, dass ihr geliebter Buchladen noch steht und besser in Schuss ist als zuvor. Ich versuche, mich
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