Die Burg der Könige
nicht unser Auftrag? Darüber zu wachen, bis die Zeit reif ist? Und ich sage euch, die Zeit ist reif, überreif sogar! Aber wenn wir jetzt nicht handeln, werden uns unsere Feinde zuvorkommen!«
Wieder ging ein Raunen über die Lichtung, manche der Mitglieder unterhielten sich leise, andere murmelten Stoßgebete.
»Ruhe, Brüder und Schwestern! Ruhe!« Der alte Vorsitzende hob die Hand und wartete, bis endlich Stille eingekehrt war. Irgendwo sang eine Nachtigall.
»Elsbeth mag recht haben«, sagte er schließlich mit bedächtiger Stimme. »Die damaligen Gründer dieses Ordens haben uns darüber im Unklaren gelassen, wann die Zeit wirklich angebrochen ist. Die Vorzeichen sind … nun, äußerst vage. Es ist an uns, sie zu deuten. Doch selbst wenn die richtige Zeit noch nicht gekommen ist, kann ich nicht mehr einstehen für die Sicherheit der Urkunde.« Er machte eine Pause und sah jedes einzelne Ordensmitglied ernst an. Erst dann fuhr er fort: »Ich schlage deshalb vor, dass wir das Pergament an einen Ort bringen, wo es wirklich sicher ist. Ich kenne einen solchen Ort. Die Mönche dort hüten seit fast tausend Jahren das Wissen des Reiches, dort ist unser Geheimnis gut aufgehoben.«
»Und wenn das Dokument dort für weitere tausend Jahre verstaubt?«, fragte Diethelm Seebach skeptisch. »Wie sollen diese Mönche wissen, wann die Zeit angebrochen ist, wenn nicht einmal wir das wissen?«
»Herrgott noch mal, du hast doch selbst gehört, wie nah uns diese Männer auf den Fersen sind!«, brach es aus dem Vorsitzenden heraus. »Und wie geschickt und teuflisch sie zu Werke gehen. Wir sind einfache Handwerker und Bauern, Diethelm! Keine Ritter in blinkender Rüstung, die es mit derlei Pack aufnehmen könnten!« Er schüttelte den Kopf. »Das haben unsere Gründer nicht vorausgesehen. Wir müssen die Urkunde fortschaffen, je früher, desto besser.«
»Und wohin willst du sie bringen?«, fragte Martin Lebrecht.
Das Antlitz des Alten wurde hart wie Stein. »Nur ich und Elsbeth als ehemalige Ringhüterin sollen den Ort wissen, das ist zurzeit am sichersten«, bestimmte er. »Ich kann nicht ausschließen, dass wir einen Verräter in unseren Reihen haben. Kannst du es, Martin?« Als keine Antwort kam, wandte der Alte sich an die Umstehenden. »Wer also dafür ist, der hebe die Hand.«
Zunächst herrschte Schweigen, in dem nur gedämpft das leise Zirpen der Grillen und das Lied der Nachtigall zu hören waren. Dann hoben, ganz langsam, zitternd und mit bleichen Gesichtern, die Ersten die Hand. Die Mitglieder wussten, dass sie damit dem Orden nach so vielen Jahrhunderten den Todesstoß gaben. Wer brauchte die Gemeinschaft noch, wenn Ring und Dokument verschwunden waren? Was sollten sie noch bewachen? Doch die Angst vor den fremden Häschern obsiegte schließlich. Einer nach dem anderen gab sein Jawort.
Am Ende waren es nur noch Elsbeth Rechsteiner, der Wirt Diethelm Seebach und Martin Lebrecht, die nicht die Hand gehoben hatten. Die Hebamme war die Erste von ihnen, die zögerlich zustimmte.
»Ich hätte einen anderen Weg gewählt«, sagte sie. »Ich hätte gehandelt und die Sache damit ein für alle Mal aus der Welt geschafft. Aber so sorgen wir wenigstens dafür, dass die Urkunde nicht in die falschen Hände kommt. Alles andere kann auch später noch geschehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Auf ein paar Monate mehr oder weniger kommt es nicht an.«
»Was ist mit euch beiden?«, fragte der Vorsitzende vorsichtig die beiden Übriggebliebenen.
»Verdammt, was soll’s!« Seebach spuckte geräuschvoll zu Boden, dann ging auch seine Hand nach oben. »Ich hab ohnehin Besseres zu tun, als auf ein altes Dokument aufzupassen. Vermutlich hast du ja recht, Elsbeth. Hungernde Bauern allerorten, Raubritter, fahrendes Pack und ein Papst, der mit seinen Mätressen ins Bett steigt … Wahrlich, die Zeiten ändern sich, und das nicht zum Guten. Möge Gott dafür sorgen, dass dieses Elend bald ein Ende hat.«
»Und du, Martin?«, wollte der Vorsitzende wissen.
Der Seiler zögerte. Erst nach einer Ewigkeit hob auch er langsam die Hand.
»Es ist wahrscheinlich wirklich der beste Schutz, den wir jetzt noch bieten können, dass die Urkunde von hier verschwindet«, sagte er leise. Ich hoffe nur, dass wirklich Gott und nicht allein die Feigheit unsere Schritte lenkt.«
»So ist es also beschlossen.« Der Vorsitzende nickte. Er sah hinüber zu Elsbeth Rechsteiner und glaubte im Mondlicht ein leises Lächeln auf ihren Lippen zu sehen.
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