Die Burg der Könige
die Liebste ihres Ordens gewesen, sie kannten sich schon so viele Jahre. Vor Ewigkeiten waren sie sogar einmal ein Paar gewesen. Der Vorsitzende erinnerte sich an so manchen schönen Tanz auf der Kirchweih – und an so manche Nacht im Heu. Jetzt ging sie gebückt, sie schien mal wieder Schmerzen in den Beinen zu haben. Elsbeths Haare waren in den letzten Wochen schlohweiß geworden. Der Alte schüttelte traurig den Kopf. Auch ihn selbst hatten die Sorgen der letzten Monate vorzeitig zu einem Greis gemacht.
Wie hast du uns das nur antun können, Elsbeth? Ein Vogel als Ringhüter! Es wird wirklich Zeit zu handeln.
Entschlossen sah der oberste Bruder die einzelnen Mitglieder ihres kleinen Ordens an, dann begann er zu sprechen.
»Es tut mir leid, dass ich euch zu später Stunde hierherbestellen musste«, sagte er leise, »doch die Kirche ist nicht mehr sicher genug. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass der Feind beim Stadtvogt nachgefragt hat. Und wer weiß, wie weit unser Pfarrer in die Sache eingeweiht ist. Wir können niemandem mehr trauen. Nicht einmal mehr uns selbst.« Er machte eine Pause, während er noch einmal die Brüder und Schwestern musterte. Sie alle trugen dunkle Mäntel und Kapuzen, damit sie nachts auf der Straße und im Wald nicht auffielen. Er hoffte, dass keiner ihnen gefolgt war.
Doch er konnte nicht ausschließen, dass das Böse bereits unter ihnen weilte.
»Der Ring ist fort, das lässt sich nicht mehr ändern«, fuhr er fort. »Doch es gibt noch die Urkunde. Ihr wisst, dass ich sie als oberster Bruder an einem sicheren Ort aufbewahre. Heute habe ich sie euch mitgebracht.«
Er griff unter sein Wams und zog eine zerknitterte Pergamentrolle hervor. Das verkratzte Siegel, das darauf prangte, zeigte das Porträt eines bärtigen Mannes; das Pergament selbst war fleckig und an den Rändern eingerissen. Es wirkte alt, sehr alt. Als der Vorsitzende es in die Höhe hielt, ging ein Raunen über die Waldlichtung. Einige der Ordensmitglieder knieten nieder und bekreuzigten sich.
»Dies hier ist das Geheimnis, gehütet über Generationen!«, fuhr der Alte im Predigerton fort. »Höret, wenn die Raben nicht mehr über dem Berg kreisen und dem Reich Gefahr droht, wenn der Adler alles Böse vertreibt und die Zwerge seinen Namen künden, dann wird Er dereinst zurückkommen. Er wird Frieden stiften und dem Deutschen Reich zu seiner einstigen Größe verhelfen.«
»Amen«, murmelten die anderen. Hoffnungsvoll starrten sie das versiegelte Dokument an. Es war, als würde es all das enthalten, was sie in diesen schlimmen Zeiten so ersehnten – Ruhe, Ordnung und vor allem ein Leben ohne Krieg, Krankheit und Hunger.
Sorgfältig steckte der Vorsitzende das Pergament zurück unter sein Wams, dann räusperte er sich.
»Nun, ich … ich habe beschlossen, die Urkunde wegzubringen«, sagte er zögernd. »Schon morgen. Hier ist sie nicht mehr sicher.«
Ängstliches Gewisper folgte, einige der Mitglieder schüttelten den Kopf.
»Aber damit verliert der Orden seinen Sinn!«, meldete sich Martin Lebrecht schließlich zu Wort. »Es ist uns aufgetragen worden, die Urkunde wie unseren Augapfel zu hüten. Hast du das vergessen? Die Urkunde und den Ring! Wenn du sie weggibst, dann ist das das Ende der Bruderschaft. Du hast es selbst gesagt …« Er wiederholte die gebetsartige Prophezeiung, die sie seit Jahrhunderten weitergaben. »Wenn die Raben nicht mehr über dem Berg kreisen und dem Reich Gefahr droht, wenn der Adler alles Böse vertreibt und die Zwerge seinen Namen künden …«
»Und wenn dieser Tag schon gekommen ist?«, unterbrach ihn Elsbeth Rechsteiner plötzlich. Einige der Ordensmitglieder sahen sich erschrocken nach ihr um.
»Was meinst du damit?«, wollte der Vorsitzende wissen.
»Nun, dem Deutschen Reich droht Gefahr, und zwar an allen Ecken und Enden. Es heißt, die Franzosen könnten jederzeit einfallen, auch hier in der Pfalz; in den italienischen Städten tobt der Krieg bereits. Die Bauern leiden Hunger und begehren auf gegen die zahlreichen Ungerechtigkeiten, und dieser Martin Luther wird von nicht wenigen als neuer Heilsbringer angesehen.« Ihre Stimme wurde sicherer, sie straffte sich. »Vielleicht ist ja das die Zeit, von der unsere Gründerväter gesprochen haben. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Die Ritter verschwinden, Blei und Feuer verheeren ihre Burgen. Vielleicht soll das Geheimnis nun endlich gelüftet werden?« Die alte Hebamme sah sich unter ihren Bündnisgenossen um. »Ist das
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