Die Burg der Könige
ihren Vater getötet und ihr den Trifels geraubt hatte. Mit teuren Büchern, Wein und der Aussicht auf ein behagliches, sicheres Leben hatte sie sich bestechen lassen. Wie hatte sie nur so tief sinken können! Dieses Possenspiel musste endlich ein Ende haben, selbst wenn sie damit den letzten Wunsch ihres Vaters in den Wind schlug.
Agnes nickte entschieden. Pater Tristans Brief und seine letzten Worte gaben ihr endlich wieder ein Ziel, eine Aufgabe. Was hatte der alte Mönch am Sterbebett zu ihr gesagt?
Du sollst endlich erfahren, wer du wirklich bist.
Nach einer langen Weile des Schweigens hob sie schließlich den Kopf.
»Ich gehe nicht mehr zurück nach Burg Scharfenberg«, sagte sie bestimmt.
»Wie … was … Was redest du da?« Mathis starrte sie entgeistert an. »Bist du verrückt geworden? Im Gegensatz zu uns hast du ein Leben, eine Zukunft! Das wirft man nicht so leichtfertig weg! Und überhaupt, wo willst du hin?«
»Nach Sankt Goar.« Agnes presste die Lippen fest aufeinander. »Ich gehe nach Sankt Goar. Pater Tristan meinte, dort könnte ich mehr über meine Vergangenheit erfahren. Constanza, Johann, der Ring … All das hängt irgendwie mit mir zusammen. Ach!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es doch selbst nicht. Ich weiß nur, dass ich mein Leben nicht so weiterführen kann wie bisher. Entweder ich gehe fort, oder ich erstarre langsam zu Stein, wenn ich mich nicht vorher vom Bergfried stürze. Und wenn Pater Tristan recht hatte, dann werde ich ohnehin verfolgt und muss von hier fort.«
»Verfolgt?« Ulrich Reichhart runzelte die Stirn. »Von wem? Was meint Ihr?«
»Pater Tristan sagte, die Hebamme Elsbeth Rechsteiner hätte ihm erzählt, dass jemand hinter mir her ist. Er … er bat mich, die Burg zu verlassen und nach Sankt Goar zu gehen. Dort gebe es irgendein Dokument, das mehr über meine Vergangenheit verrät. Ein Dokument, das zuvor in den Händen einer Bruderschaft war.« Agnes tippte auf den blutverschmierten Brief in ihren Händen. »Dieses Sankt Goar ist ein Kloster am Rhein, irgendwo stromabwärts, in der Nähe von Bingen. Er hat davon geschrieben.«
Der alte Geschützmeister lachte rau. »Wisst Ihr überhaupt, wie weit Bingen von hier entfernt ist? Das sind weit über hundert Meilen! Und dort draußen herrscht Krieg, Jungfer Agnes. Überall rotten sich die Bauern zusammen. Ein junges Ding wie Ihr gerät da schnell zwischen die Fronten.«
»Ich werde mich als Mann verkleiden«, entgegnete Agnes kühl. »Ich verstecke meine Haare und trage Beinlinge. Ein Geselle auf Wanderschaft. So etwas ist auch im Krieg nicht unüblich.«
»Und du glaubst wirklich, dass wir dich einfach so gehen lassen?« Mathis schüttelte den Kopf. »Vergiss es.«
»Was wollt ihr machen? Mich hier in der Höhle festbinden?« Agnes reckte ihr Kinn vor. »Ich gehe dorthin, wo es mir passt, verstanden?«
»Natürlich gehst du. Aber nicht allein.« Mathis hatte einen Augenblick gezögert. Nun grinste er und zwinkerte Ulrich Reichhart zu. »Denn wir gehen mit. Nicht wahr, Ulrich?«
Der alte Geschützmeister sah überrascht auf, schließlich seufzte er tief. »Zum Teufel! Ich fürchte, meine Zeit als Rebell hat heute ein jähes Ende gefunden. Und das Kriegshandwerk ist nun mal das einzige Handwerk, das ich beherrsche. Also werde ich der werten Frau Gräfin auch weiterhin zur Seite stehen.« Er legte den Kopf schräg. »Wenn sie denn möchte.«
»Ihr … ihr würdet mich begleiten? Das würdet ihr wirklich tun?« Agnes’ Herz schlug plötzlich schneller. Mit einem Mal erschien ihr ihre Entscheidung nicht mehr ganz so düster und hoffnungslos wie noch vor wenigen Augenblicken.
»Ich gehe mit dir, egal wohin«, erwiderte Mathis lächelnd. »Das sonnige Venedig oder meinetwegen Köln oder Mainz wären mir zwar lieber gewesen. Aber wenn es sein muss, ist es eben dieses staubige Kloster. Alles ist besser, als als Vogelfreier in den Wasgauer Wäldern langsam zu verhungern.« Er stand auf. »Oder zu erfrieren. Lasst uns endlich diese Eishöhle verlassen.«
Auch Ulrich Reichhart erhob sich nun schnaufend. Agnes zögerte noch ein wenig, dann richtete sie sich auf, glättete ihr noch immer feuchtklammes Hemd und nickte entschieden.
»Also gut, gehen wir«, sagte sie und schritt gebückt auf den Ausgang zu. »Aber zuvor muss ich meinem werten Gemahl wohl oder übel noch einen letzten Besuch abstatten.« Entschlossen ballte sie die Fäuste. »Es gibt dort etwas, was ich auf keinen Fall zurücklassen will. Auch
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