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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Kistler mit seinen von Kalk verätzten Fingern über das Rindsleder. Es war von guter Qualität und würde später einen widerstandsfähigen Sattel ergeben. Weitaus wertvoller war allerdings das gefragte Kalbsleder hinten in den Regalen, aus dem er in den Wintermonaten Pergament herstellte. Früher war dies allein die Aufgabe des Pergamenters gewesen, doch seitdem das Material immer weniger gebraucht wurde und der Beruf ausstarb, verschaffte es Kistler ein willkommenes Zubrot. Der alte weißhaarige Gerber musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass das hehre Wissen der Menschheit zum größten Teil auf dem Rücken dummer Rindviecher niedergeschrieben wurde.
    Auch das eine Dokument , ging es ihm plötzlich durch den Kopf.
    Kistlers Miene verfinsterte sich schlagartig. Daran hatte er schon seit längerer Zeit nicht mehr gedacht. Zu viele Dinge waren geschehen, seit Wochen schon befand sich Annweiler im Ausnahmezustand. Nachdem die Bauern von Landau aus über die Pfalz hergefallen waren und nun sogar Speyer belagerten, hatten die Annweiler Bürger beschlossen, den Aufständischen die Tore zu öffnen. Seitdem herrschte das blanke Chaos in der Stadt. Pfarrer Johannes Lebner war geflohen, ebenso einige wohlhabende Ratsmitglieder, die um ihr Geld bangten. Einen neuen Stadtvogt gab es nach dem schreck­lichen Mord an Bernwart Gessler nicht.
    Vor allem die alten Bürger verharrten ängstlich in ihren Häusern, während draußen die Bauern mit den jungen Annweilern, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, durch die Gassen patrouillierten. Währenddessen kursierten in den Wirtshäusern die wildesten Geschichten von Metzeleien. Äbte seien bei lebendigem Leibe gekreuzigt, Ritter und ihre Damen wie erlegtes Wild an die Zinnen ihrer Burgen gehängt worden. Auch den Trifels und die benachbarte Burg Scharfenberg hatten die Bauern eingenommen. Vom Grafen Scharfeneck fehlte jede Spur, ebenso von seiner jungen Frau, die offenbar bereits vorher geflohen war.
    Nepomuk Kistler musste daran denken, was die Hebamme bei ihrem letzten gemeinsamen Treffen im Wald gesagt hatte.
    Vielleicht ist ja das die Zeit, von der unsere Gründerväter gesprochen haben. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Vielleicht soll das Geheimnis nun endlich gelüftet werden …
    War das Ende der Welt nun wirklich nahe? Viele Propheten hatten geweissagt, dass die jetzige Epoche einen Wendepunkt darstellte. Kistler hatte jedenfalls gut daran getan, das Do­kument letztes Jahr verschwinden zu lassen. Hier in Annweiler wäre es nicht mehr sicher gewesen. Über eine Woche hatte seine Reise damals gedauert, den anderen Handwerkern hatte der alte Gerber erzählt, er besuche seine Schwester in Worms. Tag und Nacht war er geritten. Nun, seit das Dokument nicht mehr bei ihm war, fühlte er sich wohler.
    Schwer atmend zog Nepomuk Kistler die stinkenden Häute aus der Lohgrube und tauchte sie in eine Wanne mit frischem Wasser, während er weiter seinen Gedanken nachhing. Das Herz machte ihm mehr und mehr zu schaffen. Der fast Siebzigjährige hatte sich um den Vorsitz der Bruderschaft nicht beworben, er hatte ihn vor langen Jahren von seinem Vater geerbt, wie dieser von seinem Vater. Seitdem Kaiser Friedrich II., der Enkel Barbarossas, der Stadt Annweiler ihre Rechte verliehen hatte, hatte die Bruderschaft für den Staufer regelmäßige Messen gehalten. Doch ihre eigentliche Aufgabe war eine andere, und es waren die Kistlers, die als Vorsitzende über all die Jahre das so wichtige Dokument hüteten. Der Ring war erst vor einigen Jahren in den Besitz des Ordens gelangt.
    Seit damals hatten sie darauf gewartet, dass das Böse zurückkam.
    Als Nepomuk Kistler letzten Sommer den toten Stadtvogt im Beizfass entdeckt hatte, war er der Einzige gewesen, der nicht an die Schuld von Mathis geglaubt hatte. Insgeheim hatte er geahnt, dass jemand anders in Annweiler sein Unwesen trieb. Ein Unhold, geschickt von finstren Mächten, um eine Tat zu vollenden, die vor Hunderten von Jahren bereits geplant worden war.
    Nun sollte er diesem Unhold zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnen.
    Vielleicht war es das Geräusch der schleichenden Schritte, die damit einhergehende Stille oder auch nur der ungewöhnliche, fremdartige Geruch, der plötzlich im Raum hing – irgendetwas hatte plötzlich Kistlers Aufmerksamkeit erregt. Seine Nackenhaare stellten sich auf, ganz langsam drehte er sich um und sah in der Düsternis einen Mann in einem schlichten, aber teuer verarbeiteten schwarzen

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