Die Burg der Könige
Zwanzigjährigen, die vollen, schulterlangen Haare kämmte sie jeden Morgen. Einst war sie die schönste Dirne im Tross gewesen, doch dann hatte ihr ein betrunkener Landsknecht im Streit beide Beine gebrochen, und nun verdiente sie sich ihr Geld als Marketenderin. Barbara verkaufte den Soldaten Lebensmittel und allerlei Tand, außerdem galt sie als erfahrene Feldscherin. Sie verband Wunden, entfernte Armbrustbolzen und Bleikugeln und hatte sogar schon das eine oder andere Bein mit der Knochensäge amputiert. Für die meisten der Männer hier auf dem Feld kam jedoch jede Hilfe zu spät.
»Schau nur!« Grinsend hielt Mutter Barbara ein fast unterarmlanges Messer empor, an dem noch Spuren von Blut klebten. »Fast neu, mit einem hübschen Hirschhorngriff. Dafür bekomm ich mindestens einen halben Gulden. Nun mach schon! Wenn du weiter nur Löcher in die Luft starrst, ist das Schlachtfeld bald leer geräumt.«
Agnes nickte schweigend und ging durch die niedergetretenen Ähren langsam auf die nächsten steifen Körper zu. Wie so oft hatten sie und die kleine Agathe den Auftrag erhalten, nach der Schlacht die Leichen zu plündern. Die meisten der Toten waren arme Bauern, deshalb war nicht viel zu holen. Doch manche von ihnen trugen zumindest gute Lederstiefel, die sie vermutlich selbst zuvor einem toten Landsknecht abgeknöpft hatten. Außerdem fanden sich Sensenblätter, Sicheln, kupferne Hemdsknöpfe, bunte Hutfedern, manchmal Silberringe und eben Messer, wie Mutter Barbara gerade eines im Dreck entdeckt hatte.
Besorgt blickte Agnes in ihren Beutel, der noch fast leer war. Wenn sie nicht bald etwas Wertvolles fand, würde Barnabas wieder seinen üblichen Tobsuchtsanfall bekommen. Seit ihrer Vergewaltigung in Kehl war er noch mehrere Male über sie hergefallen. Im Gegensatz zum ersten Mal hatte sie es schweigend ertragen, ungerührt wie ein Flusskiesel, über den das Wasser strömt. Sie hatte die Augen geschlossen und versucht, an nichts zu denken, nur an endlose Wälder. Wenigstens war es schnell gegangen, und danach hatte sie sich jedes Mal lange gewaschen. Im Gegenzug für ihr Stillhalten sorgte Barnabas dafür, dass die anderen Männer sie in Ruhe ließen. Doch wenn sie ihm nicht genügend Beute lieferte, könnte sich das schnell ändern. Zum Glück kannte sie Kräuter, die eine Schwangerschaft verhinderten.
Es gab Augenblicke, da stellte Agnes sich vor, wie sie Barnabas im Schlaf die Kehle durchschnitt. Aber noch siegte jedes Mal die Angst über ihren Hass.
Nicht mehr lange, du Dreckschwein. Nicht mehr lange …
Nur unweit von Agnes entfernt ragte ein weiterer kleiner Hügel aus den Halmen. Sie ging darauf zu und sah, dass der Tote ein hübscher Bursche von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren war. Er trug an den Knien geschnürte Beinlinge und das grobe Leinenhemd eines Bauern, das von Blut getränkt war. Sein langes blondes Haar war verfilzt, das Gesicht wächsern und eingefallen. Vermutlich war er einer der vielen Trommlerjungen gewesen, die jedem Fähnlein vorausschritten und oft als Erste den Tod fanden.
Dabei hatte sein Leben gerade erst begonnen , dachte Agnes.
Sie beugte sich über ihn und sah im abendlichen Dämmerlicht eine Kette, die um seinen Hals hing. Mit einer heftigen Bewegung riss sie sie ab, und zum Vorschein kam ein kleines silbernes Kruzifix. Erleichtert über den wertvollen Fund steckte Agnes das Kreuz in ihren Beutel. Barnabas würde mit ihr zufrieden sein, sie hatte sich eine weitere alptraumlose Nacht erkauft.
Eben wollte sie zur nächsten Leiche gehen, als der Junge die Augen aufschlug.
»Bei allen Heiligen, du lebst ja noch!« Agnes hielt erschrocken inne, dann kniete sie sich neben ihn und hielt ihr Ohr an seine Brust. Das Herz des Knaben schlug schnell, aber regelmäßig.
»Das Kruzifix …«, keuchte er und packte ihre Hand. »Mutter, Mutter …«
»Ich bin nicht deine Mutter«, erwiderte Agnes leise. »Aber wenn du willst, kann ich dir ein Schlaflied singen.«
Der Junge beruhigte sich augenblicklich; er nickte lächelnd, und Agnes summte das alte okzitanische Lied, das sie von ihrer Mutter kannte und das sie bereits dem sterbenden Pater Tristan vorgesungen hatte. Währenddessen öffnete sie das Hemd des Buben und untersuchte oberflächlich dessen Verletzungen. Seine Schulter war von einer Bleikugel zerschmettert, er hatte viel Blut verloren, aber mit ein bisschen Glück konnte man die Kugel vielleicht entfernen und die Blutung stoppen.
Dafür brauchte sie allerdings
Weitere Kostenlose Bücher