Die Burg der Könige
fassungslos auf seine rechte Hand, die über und über mit Blut besudelt war.
Sein kleiner Finger fehlte.
Wie ein toter fetter Wurm lag er vor Agnes auf der Decke.
»Du … du Miststück!«, schrie Barnabas. »Na warte, dafür schneid ich dich in Stücke und werf dich den Schweinen zum Fraß vor!«
Brüllend warf er sich auf sie, doch Agnes glitt im letzten Moment zur Seite. Sie musste raus aus dem Wagen, und zwar schnell! Es würde nicht mehr lange dauern, bis Marek, Schniefnase und die anderen nach dem Rechten sehen würden. Aber wo war der Ring? Ohne ihn konnte sie nicht fort! Gerade hatte sie ihn noch in der Hand gehalten, er musste irgendwo neben der Liegestatt auf den Boden gefallen sein! Nur wo? Alles um sie herum war dunkel.
In diesem Augenblick stürzte sich Barnabas auf sie. Agnes nahm die blutbesudelte Decke und warf sie ihm entgegen, so dass der Hurenhändler kurzzeitig abgelenkt war.
»Hexe, Giftmischerin!«, brüllte er. »Samuel, Marek, Schniefnase, helft mir, dieses Weib auf den Scheiterhaufen zu bringen!«
Endlich sah sie den Ring.
Er war in eine Ecke gerollt und lag neben einem Haufen rostiger Schwerter und Degen. Durch einen Riss im Segeltuch schimmerte Mondlicht herein, das das goldene Schmuckstück glitzern ließ.
Agnes kroch in die Ecke, packte den Ring und wollte soeben durch das Loch in der Leinwand nach draußen fliehen, als sie Barnabas’ Hand auf ihrer Schulter spürte. Wie eine Spielzeugpuppe warf er sie gegen eine der Truhen. Sein Hemd und seine Hose waren mit Blut verschmiert; wie ein zorniger Rachegott stand er über ihr, dann warf er sich erneut auf sie. Agnes schrie, wie sie noch nie geschrien hatte.
»Geh weg, du Teufel!«, fauchte sie. »Du hast mich lang genug gequält, lass mich endlich in Frieden, du böser Geist, du …«
Doch Barnabas drückte ihr die Kehle wie mit einem Schraubstock zu, und ihr Wehklagen verstummte.
»Schau mich an, wenn du stirbst, Agnes!«, keuchte der Hurenhändler und leckte sich die spröden Lippen. »Mein Gesicht wird das Letzte sein, was du in deinem Leben …«
Ganz plötzlich stockte er, und seine Augen traten hervor wie zwei große runde Glasmurmeln. Er ächzte und öffnete den Mund zum Schrei, doch hervor kam nur ein dünner Faden Blut. Sein mächtiger Körper bäumte sich auf, dann kippte er lautlos zur Seite.
Zitternd betrachtete Agnes den zersplitterten Säbel, den sie noch immer krampfhaft umklammert hielt. Er war rot vom Blut des Hurenhändlers. Als Barnabas sich auf sie gestürzt hatte, hatte sie instinktiv nach einer der Waffen in der Ecke gegriffen und die Klinge in den Unterleib ihres Entführers gerammt.
Vorsichtig blickte sie nun auf den schlaffen, blutigen Leib neben sich, doch Barnabas gab keinen Laut mehr von sich, seine Augen starrten leblos zur Decke.
Nur kurz empfand Agnes Reue. Pater Tristan hätte diese Tat bestimmt nicht gutgeheißen. Doch dann durchströmte sie ein süßes Gefühl der Genugtuung. Es war, als hätte ein anderes Wesen, das tief in ihr wohnte, diesen Augenblick zutiefst herbeigesehnt.
Ich hätte es schon viel früher tun sollen. Für alle Frauen, denen dieses Schwein Gewalt angetan hat …
Von draußen waren nun Rufe zu hören, hastige Schritte näherten sich dem Karren. Agnes steckte sich den so lange vermissten Ring an den Finger und spürte, wie neue Kraft sie durchströmte. Ein letztes Mal warf sie einen Blick auf den toten Hurenhändler, dann hieb sie mit dem Säbel ein weiteres Loch in die rückwärtige Leinwand des Wagens und schlüpfte hinaus in die Dunkelheit.
Draußen erwartete sie der Krieg.
***
Als Mathis und Melchior nach gut zwei Stunden Fußmarsch über zertrampelte und niedergebrannte Felder endlich das Lager des Schwäbischen Bundes erreicht hatten, schlug Mathis das Herz bis zum Hals. Das Heer war so groß, dass es sich nach allen Richtungen bis zum Horizont auszubreiten schien. Er hatte gehört, dass der Bund sich mittlerweile mit den Heeren des pfälzischen Kurfürsten und dem des Würzburger Bischofs vereint hatte und nun aus fast zehntausend Landsknechten und über 2500 gepanzerten Reitern bestand.
Und irgendwo mittendrin ist vielleicht Agnes , dachte er, aber seine Hoffnung schwand von Schritt zu Schritt.
Es war dunkle Nacht, und die vielen Lagerfeuer funkelten wie gefallene Sterne. Mathis war sich sicher, dass jeden Augenblick jemand laut Alarm schreien würde, doch nichts dergleichen geschah. Die Soldaten, die teils schlafend, teils trunken zusammengesunken auf dem
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