Die Burg der Könige
Seite, und dahinter kam ein Hohlraum zum Vorschein, in dem sich ein rostiger Griff befand. Als der Chorherr daran zog, gab es einen leichten Ruck, dann öffnete sich die Grabplatte quietschend nach außen und gab den Blick frei auf eine steinerne Wendeltreppe. Ein kalter Windzug kam Agnes und den anderen entgegen.
»Die Bibliothek ist hier unten«, sagte Pater Domenicus, während er nach einer Fackel an der Wand griff. »Die größte Sammlung von Wissen im gesamten Deutschen Reich. Abt Diether von Katzenelnbogen hat sie damals mit dem Geld seiner Mutter erbauen lassen. Nun bildet sein eigenes Grab den Eingang.« Ächzend stieg der alte Mann die ausgetretenen Stufen hinab. »Kommt und betrachtet mit mir das Wunder von Sankt Goar.«
Wie das Innere eines Schneckenhauses wand sich die Treppe immer tiefer in den Fels unter der Kirche. Schließlich endeten die Stufen an einem Torbogen mit einer Tür aus massivem Holz, die zusätzlich noch mit Eisenplatten verstärkt war. Pater Domenicus entzündete mit seiner Fackel eine gläserne, rußbefleckte Laterne, die an einem Haken neben dem Portal hing. Sorgsam löschte er die Fackel, erst dann holte er unter seiner Kutte erneut den großen Schlüsselbund hervor und schob einen der Schlüssel ins Schloss.
»Kerzen und Fackeln sind hier drin verboten«, erklärte er. »Und die einzelnen Räume, die wir nun bald durchschreiten, sind alle mit feuerfesten Türen gesichert. Sollte ein Brand ausbrechen, können wir ihn so wenigstens auf einen bestimmten Bereich begrenzen. Zweimal ist das in den letzten dreihundert Jahren vorgekommen, der Verlust war auch so schon schmerzlich genug.«
Die Tür schwang auf, und Agnes stockte der Atem.
Bislang kannte sie nur die kleine Bibliothek im Trifels, einmal hatte sie auch die Eußerthaler Klosterbibliothek besuchen dürfen, aber dies hier war etwas gänzlich anderes. Vor ihr breitete sich ein wahrer Kosmos von Büchern aus. Fast zehn Schritt hoch ragten die mit dicken Wälzern, dünnen Kladden, Dokumenten, Briefen und Pergamentrollen vollgestopften Regale auf, die sich nach hinten in der Dunkelheit verloren. Leitern und Treppen führten in obere Etagen, kleine Balkone standen überall hervor. Agnes hörte ein Rascheln und sah, wie ein Mönch mit einem Stapel Bücher in der Hand gebückt durch einen Gang zu ihrer Linken schlich; er sprach kein Wort, doch seine Schritte hallten durch das Gewölbe und bildeten ein seltsames Echo, das wie das dumpfe Prasseln einzelner Regentropfen klang. Von irgendwoher war leises Flattern zu vernehmen, so als hätten die Eindringlinge ein Tier aufgescheucht.
Währenddessen ging Pater Domenicus voran und enthüllte mit seiner Laterne Stück für Stück das ganze Ausmaß des Gewölbes. Agnes schätzte, dass die Halle über fünfzig Schritt lang war, zwischen den Regalen bogen immer wieder Gänge ab, die zu weiteren Türen führten. Alles schien in mühsamer Arbeit aus dem Fels gehauen zu sein; an den Wänden zeigten sich an vielen Stellen weiße, fast gipsartige Flächen, die sich Agnes nicht erklären konnte. Plötzlich war sie froh um ihren warmen Mantel. In dem Stollen war es kalt wie in einem Grab.
»Nicht gerade ein gemütlicher Platz für eine Bibliothek«, bemerkte Melchior, während er sich fröstelnd die Hände rieb und zur hohen Decke starrte.
»Aber ein sicherer«, versetzte Pater Domenicus. »Die niedrige Temperatur und die Trockenheit hier sorgen dafür, dass die Werke nicht verschimmeln. Es hat wohl auch mit dem Salz zu tun, das hier überall aus dem Felsen hervortritt. So genau wissen wir das nicht. Doch es gibt keinen besseren Ort, um so viele Bücher zu lagern.«
»Wie viele sind es denn?«, wollte Agnes wissen.
»Wir schätzen, etwa hunderttausend. Das meiste davon allerdings Pergamentrollen und zerfledderte Akten, die der täglichen Pflege bedürfen. Die berühmte Bibliothek von Alexandria hatte übrigens fünfmal so viel Bestand. Trotzdem können wir, glaube ich, stolz sein.«
Pater Domenicus schritt weiter an den hohen Regalen vorbei. Erneut kreuzte ein einzelner Mönch mit Büchern im Arm ihren Weg, der den Dekan mit einem Kopfnicken grüßte.
»Wie kommt es, dass keiner von dieser Bibliothek weiß?«, fragte Melchior. »Ihr sagtet, dass Reisende Zugang zu ihr haben. Warum habe ich dann noch nie von ihr gehört?«
»Früher, zur Zeit Friedrich des Staufers, war die Bibliothek tatsächlich allen Interessierten zugänglich. Doch dann kam die böse Zeit, als es keinen Kaiser gab, und
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