Die Burg der Könige
Handbewegung wies Pater Domenicus seine Gäste an, sich an den Tisch zu setzen. Dann zog er ein weiteres großes Buch aus den Regalen und blätterte darin. Es enthielt eine Reihe bunter Zeichnungen. Nachdem der Dekan fündig geworden war, legte er das Buch vor Agnes auf den Tisch. Er deutete auf eine Seite, die einen hübschen jungen Mann mit dem typischen Pagenschnitt der damaligen Ritterzeit zeigte.
»Das hier ist Enzio, der Lieblingssohn Friedrichs, wenn auch unehelich geboren«, erzählte er in mildem Ton. »Er soll seinem Vater sehr ähnlich gewesen sein. Wissbegierig und der Poesie zugeneigt. Doch schon in jungen Jahren geriet er in der Schlacht bei Fossalta in bolognische Gefangenschaft, wo er bis an sein Lebensende blieb. Zwar durfte er Briefe schreiben und Besuche empfangen, aber seine Wächter achteten sehr darauf, dass diese Besuche nie unbeobachtet blieben. Bis auf ein einziges Mal …« Der Pater räusperte sich. »Nun, es gab da wohl eine Nonne. Eleonore von Avignon war ihr Name, sie stammte aus normannischem Adel und muss sehr hübsch gewesen sein. Enzio hat sich im fortgeschrittenen Alter noch in sie verliebt. Dieser Liebe entsprang ein Kind, eine Tochter mit Namen Constanza …«
»Mein Gott, Constanza!« Agnes schrie leise auf. Wieder überkam sie ein Zittern. »Die … die Frau aus meinen Träumen!«
»Und eine bislang unbekannte Nachfahrin aus dem Geschlecht der Staufer.« Melchior von Tanningen nahm seine Laute von der Schulter. »Was für ein großartiger Stoff für eine Ballade! Hört selbst, wie …« Soeben wollte er ein paar Saiten anschlagen, doch ein böser Blick von Mathis brachte ihn zum Schweigen.
Pater Domenicus musterte den Barden ein wenig irritiert, schließlich fuhr er fort: »Bis zum Zeitpunkt von Constanzas Geburt war die Dynastie der Staufer praktisch ausgestorben. Es gab zwar einige in alle Winde verstreute Nachfahren, doch ohne den Ring fehlte ihnen die nötige Legitimität. Außerdem hatte Friedrich II. einst eine Urkunde verfasst, um Erbstreitigkeiten zu vermeiden. Nur der Ring und diese Urkunde machten ihren Besitzer zum einzigen wahren Erben der Staufer, egal ob Mann oder Frau. Beides befand sich in den Händen von Enzio, und der gab es weiter an sein einziges Kind …«
»Constanza«, murmelte Agnes. »Sollte sie deshalb aus dem Weg geschafft werden?«
Pater Domenicus nickte. »Enzio wusste, dass das Leben des Kindes in Gefahr war. Karl von Anjou, der Bruder des französischen Königs, hatte schon die Staufernachfahren Konradin und Manfred umbringen lassen. Manfreds Söhne ließ er zudem im Castel del Monte einkerkern, wo zwei der Brüder schließlich erblindeten und dem Wahnsinn anheimfielen. Nur einem gelang die Flucht, aber auch er starb umnachtet im fernen Ägypten. Karl von Anjou durfte also nichts von Constanza erfahren!« Der Dekan blätterte in dem alten Buch, bis er die Zeichnung einer Burg fand, die Agnes nur zu bekannt vorkam. Ein Schauer kroch ihren Nacken empor, und das lag nicht an der Kühle des Raumes.
»Aus diesem Grund schickte Enzio das Kind heimlich auf den Trifels, wo es unerkannt als Zofe aufwuchs«, erzählte Pater Domenicus leise weiter. »Auch Constanza selbst wusste nichts von ihrer hohen Herkunft. Nur der damalige Trifelser Burgvogt Philipp von Falkenstein war eingeweiht. Er war es auch, der für Constanza den Ring und die Urkunde aufbewahrte. Schließlich lernte Constanza auf der Burg einen hübschen jungen Knappen kennen, der kurz vor der Schwertleite stand. Sein Name war …«
»Johann«, flüsterte Agnes. »Johann von Braunschweig. Mein Gott, meine Träume, sie sind wirklich alle wahr!«
Pater Domenicus blickte sie erstaunt an. »Ja, Johann von Braunschweig«, erwiderte er schließlich. »Ein echter Welfe, und damit ein Spross aus der einst zweitmächtigsten Dynastie nach den Staufern. Erst bei ihrer Hochzeit erfuhr Constanza durch den Burgvogt von ihrer Vergangenheit. Philipp von Falkenstein überreichte ihr feierlich Ring und Urkunde, und sie weihte Johann in das Geheimnis ein.«
Agnes war nun wie in Trance, während sie weiter den Worten des Dekans lauschte.
»Constanza gebar Johann einen Sohn, und sie nannten ihn Sigmund«, fuhr Domenicus fort. »Eine Zeitlang waren sie glücklich. Doch dann geschah etwas Fürchterliches: Die Habsburger, die mittlerweile über das Deutsche Reich herrschten, erfuhren von Constanzas wahrer Herkunft. Und sie erfuhren auch von dem Kind …« Pater Domenicus seufzte tief. »Man stelle sich
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