Die Burg der Könige
weiterer Einschlag erschütterte den Palas. Er war so heftig, dass sich die Bauern auf den Boden warfen, einige wimmerten wie kleine Kinder. In einer Ecke löste sich knirschend ein Teil des steinernen Treppengeländers und begrub zwei in Todesangst schreiende Männer unter sich. Eine Wolke aus Steinstaub breitete sich im Saal aus.
»Was seid ihr nur für verfluchte Angsthasen!«, brüllte der Jockel gegen den Lärm an. Seine Gestalt war gehüllt in Staubwolken und Rauch. »Seht ihr nicht, dass uns Gott in dieser schweren Stunde ein Geschenk gemacht hat? Seht ihr nicht, dass all das Kämpfen und Sterben rings um uns nur eine letzte Prüfung ist?« Jockels Augen funkelten, als er sich nun mit weit ausgebreiteten Armen seinen wenigen verbliebenen Anhängern zuwandte. »Ich dachte schon, Gott hätte uns im Stich gelassen. Aber nein, er hat uns nur geprüft, und nun schickt er uns seine mächtigste Reliquie. Die Heilige Lanze!«
Er lachte schrill, und Mathis erkannte in Jockels Blick, dass sich der Wahnsinn, der wohl schon immer in ihm geruht hatte, nun endgültig seine Bahn brach. Schlagartig verebbte das Lachen. Der Schäfer-Jockel rannte auf die noch immer gefesselte Agnes zu und zog sie an den Haaren hoch.
»Die Lanze!«, schrie er. »Gib sie mir, Grafenbrut! Red schon, wo haben deine Vorfahren sie versteckt?«
»Ich … ich weiß es nicht!« Wild zappelnd versuchte Agnes, sich Jockels Griff zu entwinden. Die Selbstsicherheit, die sie unten in der Kammer eben noch gezeigt hatte, war ganz plötzlich verschwunden, aus der stolzen Königin war wieder eine junge ängstliche Frau geworden. »Alles, was ich weiß, ist, dass Constanzas Zeichnung uns zu ihr hinführt«, fuhr sie verzweifelt fort. »Die Zeichnung und der Spruch!«
»Du lügst, Flittchen, die Lanze ist irgendwo hier versteckt! Die Zeichnung zeigte eine Burg, ganz deutlich! Und welche andere Burg kann sonst gemeint sein als der Trifels? Also, red endlich! Ich brauche die Lanze jetzt! Jetzt ! « Der Jockel ließ Agnes los und begann, mit seiner verkrüppelten Hand die Wände des Rittersaals abzuklopfen. »Ha, irgendwo wird eine Geheimtür sein, eine vermauerte Nische. Kommt schon, ihr Faulpelze, helft mir beim Suchen!«
Die letzten Worte waren an das halbe Dutzend Bauern gerichtet, die noch immer im Rittersaal ausharrten, die anderen waren längst geflohen. Mit offenen Mündern starrten sie auf den klopfenden, tanzenden Derwisch, der einmal ihr Anführer gewesen war. Offenbar wurde nun auch ihnen klar, dass der Schäfer-Jockel nicht mehr ganz bei Sinnen war.
»Jockel, hör auf damit«, warf einer von ihnen zaghaft ein. »Was immer du da suchst, wir brauchen es nicht. Was wir brauchen, sind Befehle. Sollen wir uns auf den oberen Burghof zurückziehen oder sollen wir …«
»Ha, hier ist eine hohle Stelle!«, lachte der Schäfer-Jockel plötzlich und pochte so heftig gegen die Wand, dass Schlieren von Blut daran kleben blieben. »Hier ist sie! Ich habe sie gefunden, die Heilige Lanze! Nun kann der Kampf endlich beginnen!« Immer wieder schlug er wie wahnsinnig gegen die Mauer.
»Heilige Jungfrau Maria, wir sind verloren«, murmelte das Mondgesicht und schlug ein Kreuz. »Das ist das Ende.«
In diesem Augenblick ertönte ein Pfeifen und gleich darauf ein gewaltiges Bersten. Der ganze Saal erzitterte, und Mathis wurde von einer unsichtbaren Macht von den Füßen gerissen.
Die Nachtigall! , fuhr es ihm noch durch den Kopf. Eine Dreißig-Pfund-Kugel hat die Ostwand aufgerissen. Wir müssen …
Steine, Balken und Staub regneten auf ihn herab. Instinktiv kauerte er sich zusammen und hielt die gefesselten Hände schützend über den Kopf.
»Agnes!«, rief er hinein in das brüllende Chaos. »Agnes!«
Ein weiterer Deckenbalken stürzte herab, doch bevor er Mathis zerschmetterte, stellte das Holz sich plötzlich quer und fing so eine Ladung Steine ab, die sich aus der Decke gelöst hatten. Mathis hörte noch ein paar dumpfe Schreie, dann herrschte plötzlich Stille. Irgendwo rieselte Staub zu Boden, ansonsten war im Saal kein Sterbenslaut mehr zu vernehmen. Nur vom Burghof her drangen weiter die Geräusche des Krieges herauf.
»Agnes?«, sagte Mathis leise.
Keine Antwort kam. Vorsichtig richtete er sich auf und blickte auf das, was einmal der Rittersaal gewesen war. Die halbe Decke war eingestürzt, ebenso ein Teil der Ostwand, so dass der kühle Morgenwind hereinpfiff. Überall auf dem Boden lagen Steinbrocken und zersplitterte Holzbalken, unter denen hier
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