Die Burg der Könige
jetzt wahrgenommen hatte. Es war ein junger Mann im Kettenhemd, der mit gesenktem Haupt vor einem älteren Ritter kniete. Agnes’ Atem ging merklich schneller.
»Dieser … Jüngling«, fragte sie vorsichtig, »wer ist das?«
Pater Tristan beugte sich über das Buch und musterte die Zeichnung genauer. »Meine Augen sind nicht mehr die besten«, klagte er. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, ist das eine Schwertleite. Ein junger Mann wird zum Ritter geschlagen.« Er zögerte, dann schüttelte er so heftig den Kopf, als versuchte er, einen bösen Gedanken zu vertreiben. »Wer das ist, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Dafür ist schon zu viel Zeit vergangen. Der junge Mann ist längst zu Knochen und Moder zerfallen.«
»Nicht in meinem Traum«, murmelte Agnes.
Mit einer heftigen Bewegung schlug Pater Tristan das Buch zu. »Man sollte nicht zu tief in der Vergangenheit wühlen«, sagte er ein wenig zu schnell. »Das führt zu nichts Gutem.« Er sah sie streng an. »Und was diesen Ring betrifft, möchte ich dich um etwas bitten, Agnes. Trage ihn nicht am Finger und zeige ihn keinem Fremden! Versprichst du mir das?«
»Aber warum?«, fragte Agnes verdutzt. »Ist er denn so kostbar, dass ihn mir jemand stehlen könnte?«
»Sein Wert ist ein anderer. Versprich es mir einfach. Vielleicht kann ich dir ein andermal mehr über ihn erzählen. In Ordnung?«
Agnes nickte schweigend, und der Mönch lächelte und erhob sich. Langsam schlurfte Pater Tristan zum Ausgang der Bibliothek, wo er sich mit einem Augenzwinkern nach Agnes umdrehte. »Komm, wir sollten beide etwas essen. Danach fällt mir vielleicht ein, wie wir deinem Mathis aus der Patsche helfen können. Die Lebenden sollten uns immer näher sein als die Toten, vor allem, wenn diese schon vor so langer Zeit gestorben sind. Und nun komm endlich.« Er griff nach seinem Pilgerstab und stieg die Treppe in die Küche hinunter. »Du weißt, die dicke Hedwig mag es gar nicht, wenn man ihr Essen kalt werden lässt.«
Zögernd folgte ihm Agnes. Bevor sie die Bibliothek verließ, warf sie noch einen letzten Blick auf das nun zugeschlagene Buch auf dem Tisch. Welche weiteren Geheimnisse mochten sich noch darin verbergen?
Mit einem Seufzen folgte sie Pater Tristan hinunter in die Küche, wo es schon angenehm nach gebratenem Fleisch duftete.
***
Mathis’ Magen knurrte so laut, als hätten die Wachen einen Bären zu ihm in den Kerker gesperrt. Obwohl es bereits nach Mittag war, hatte er heute außer einer dünnen Suppe und einem verschimmelten Kanten Brot noch nichts bekommen. Er starrte die schmutzige Wand an, als könnte er mit seinem Blick ein Loch hineinbrennen. Für jeden Tag hier unten hatte er mit einem verkohlten Stück Holz einen Strich auf den Stein gemalt. Zehn Striche waren es bislang, zehn Tage und Nächte in fast völliger Dunkelheit. Heute kam ein elfter Strich hinzu.
So lange saß er nun schon hier im Burgkerker, der sich direkt unter dem Vorratskeller des Trifels befand. Sein Gefängnis war ein tiefer in den Fels gehauener Schacht, dessen Grund nur mittels eines Seils zu erreichen war. Stinkendes Stroh war über den Boden verteilt, dazwischen lagen Steinbrocken, morsche Latten und Holzstücke, die irgendjemand mal hinuntergeworfen hatte, des Nachts fiepten die Ratten und huschten von einem Mauerloch zum nächsten. Zwei schmale Schlitze in gut vier Schritt Höhe sorgten für ein wenig Tageslicht, ansonsten herrschte Finsternis. Mit dem Seil ließen die Burgmannen zweimal am Tag Wasser, Suppe und Brot zu Mathis herunter und entsorgten seine Notdurft. Ulrich, Gunther und den übrigen Wachen war es sichtlich unangenehm, den jungen Burschen, den sie von klein auf kannten, dort unten eingesperrt zu wissen. Doch der Vogt war unerbittlich, nicht einmal reden durften sie mit dem Gefangenen. Und so starrte Mathis tagaus, tagein düster vor sich hin. Um nicht einzurosten, lief er gelegentlich wie ein gefangenes Raubtier in dem gerade fünf mal fünf Schritt großen Raum auf und ab, oder er stemmte einige Felsbrocken, die aus der Wand gefallen waren.
Agnes hatte ihm einmal erzählt, dass auf der Reichsfeste Trifels einst hohe Adlige und Bischöfe eingekerkert gewesen waren. Sogar Richard Löwenherz, der berühmte englische König, habe hier geschmachtet. Mit dem Lösegeld, das Barbarossas Sohn Heinrich VI. für Löwenherz bekam, eroberte der deutsche Kaiser später Sizilien und kam mit einem gewaltigen Schatz zurück. Mathis konnte sich allerdings
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