Die Burg der Könige
einen leichten Luftzug. Als sie sich umdreht, steht dort der Jüngling aus dem ersten Traum. Er wirkt reifer diesmal. Sein Haar ist noch genauso voll und schwarz wie beim letzten Mal, doch seine Gesichtszüge sind markanter, nicht mehr so weich wie einst. Bartstoppeln lassen ihn älter und männlicher erscheinen. Wieder trägt er das blankpolierte Kettenhemd, unter dem sich jetzt aber breite Schultern abzeichnen. In seinem dreckverschmierten Umhang hängen Tannennadeln, die rechte Hand steckt in einem Lederhandschuh, auf dem ein graublauer Sperber sitzt. Nun reicht der Jüngling den Sperber an einen Knecht weiter und geht lächelnd und mit ausgebreiteten Armen auf Agnes zu.
Agnes spürt, wie ihr Herz einen Sprung macht. Sie liebt diesen Mann, so wie sie noch nie jemanden geliebt hat! Und sie weiß, dass er diese Liebe teilt. Noch nie war sie so glücklich wie in diesem Augenblick. Als er sie umarmt, riecht sie seinen herben Schweiß, vermischt mit dem harzigen Duft der Tannennadeln. Sie möchte, dass er sie nie wieder loslässt. Sie denkt an das Lied, das sie hörte, als sie ihn das erste Mal sah.
Unter der Linden, an der Heide, da unser zweier Bette war …
Als er sich von ihr löst, ergreift er plötzlich ihre Hand und redet beschwörend auf sie ein. Sein Blick ist jetzt sehr ernst, die Lippen bewegen sich, doch Agnes kann nicht hören, was er sagt. Sie vernimmt nur das Rauschen des Windes. Dabei weiß sie, dass seine Worte sehr wichtig sind, dass es um Leben und Tod geht.
Der Jüngling ergreift ihre Hand nun immer fester, es tut weh, etwas schnürt einen ihrer Finger ein. Als sie hinunterblickt, sieht sie, dass es ein Ring ist, der diese Schmerzen verursacht, wie ein eisernes Band, das sich immer mehr zuzieht.
Es ist der Ring mit dem Siegel des bärtigen Mannes.
Der Ring Barbarossas.
Wieder blickt sie in das Gesicht des Jünglings. Seine Lippen formen Laute, die sie nicht hören kann. »Nimm den Ring ab, nimm den Ring ab!«, scheint er ihr zuzurufen. »Nimm den Ring ab!«
Lautlos schreit Agnes auf; sie versucht, den Ring abzustreifen, doch er gräbt sich immer tiefer in ihr Fleisch. Sie spürt, wie er sich langsam um ihren Knochen legt. Wie eine Halskette, die ihr die Luft abschnürt.
Der Ring wird eins mit ihr.
Als sie wieder aufschaut, ist der Jüngling verschwunden. Der Burghof ist leer, und sie ist ganz allein.
Keuchend und am ganzen Körper zitternd wachte Agnes auf, der Mond schien hell in ihre Kammer. Panisch sprang sie aus dem Bett auf und eilte zum offenen Fenster.
Wo bin ich?
Doch unter ihr lag nur der Trifelser Burghof, wie sie ihn seit ihrer Kindheit kannte. Von hier oben konnte sie schemenhaft den Hundezwinger und den Vogelkäfig sehen, die verfallenen Mauern und das windschiefe Ritterhaus, das in ihrem Traum eben noch so herrlich mit roten Ziegeln gedeckt war. Ihre Hand ging zum Hals, und sie zog unter ihrem Hemd die Kette mit dem Ring hervor. Weißes Mondlicht fiel auf die Gravur, er sah aus wie in ihrem Traum. Doch obwohl er die ganze Nacht über ihrem Herzen gelegen hatte, fühlte er sich eiskalt an.
Was in aller Welt hat das zu bedeuten? Was macht dieser Ring mit mir?
Agnes atmete ein paarmal tief durch. Schließlich bemühte sie sich, ihre Gedanken zu ordnen. Es kam immer wieder vor, dass sich in ihre Träume Dinge aus dem wahren Leben einschlichen. Das war nichts Ungewöhnliches, auch andere Menschen kannten das. Ungewöhnlich war nur, wie echt ihr der Traum und damit auch der Ring vorgekommen waren. Wie schon zuvor hatte sie alles genau spüren und hören können – den lauen Wind auf der Haut, den harzigen Geruch der Tannennadeln, den herben Schweiß ihres Geliebten … Was hatte es mit jenem Jüngling auf sich, den sie offenbar so sehr begehrte? Wer war er? Jetzt im wachen Zustand empfand sie nichts mehr für ihn, beinahe so, als wäre sie im Traum jemand ganz anderer gewesen. Agnes runzelte die Stirn. Der Jüngling hatte sie vor dem Ring gewarnt. Stellte er etwa eine Gefahr für sie dar? Auch Pater Tristan hatte etwas Derartiges angedeutet.
Unwillkürlich strich sie über das kühle Metall und schüttelte den Kopf. Vermutlich war Pater Tristans Warnung ganz einfach in ihren Traum eingeflossen. Das war alles. Sie fing schon an, Gespenster zu sehen.
Du solltest öfter im Garten arbeiten, dann hättest du für derlei Mätzchen keine Zeit mehr!
Erst jetzt merkte Agnes, wie kalt ihr in dem dünnen Nachthemd war. Fröstelnd ging sie zurück zu ihrem Bett und
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