Die Burg der Könige
Schultern. Es war, als hätte ein kalter Wind durch die Stube geweht.
Nach einer Weile öffnete Bernwart Gessler die Schublade und wog noch einmal den schweren Beutel Münzen in seiner Hand.
Seltsamerweise empfand er dabei keine rechte Freude.
***
Im Kerker des Trifels hatte Mathis seit dem Besuch seiner Mutter fünf weitere Striche an die felsige Wand gekratzt. Jeden Tag rechnete er damit, dass ihn der Vogt dem Annweiler Stadtvogt ausliefern würde oder dass seine Mutter ihm Nachricht vom Tod seines kranken Vaters brachte.
Die endlosen Stunden vergingen gleichförmig, nur unterbrochen, wenn ihm Ulrich Reichhart oder einer der anderen Büttel etwas zu essen brachte. Dann öffnete sich kurz die Luke, und Licht fiel auf Mathis’ blasses Gesicht. Ulrich hatte gelegentlich ein tröstendes Wort parat, ansonsten war Mathis allein mit seinen Gedanken.
Um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, hatte er begonnen, sich an die verbotenen Schriften zu erinnern, die ihm der Schäfer-Jockel vor einiger Zeit gegeben hatte. Wenn er die Augen schloss, konnte er die Buchstaben deutlich vor sich sehen, und so las er in Gedanken noch einmal die Forderungen der Bauern, wiederholte flüsternd die Zeilen, die von einer besseren Welt berichteten – von einer Welt ohne Fürsten, Grafen und Pfaffen. Doch immer wieder schob sich ein anderes Bild dazwischen und lenkte Mathis ab.
Es war das Gesicht von Agnes.
Zum vielleicht dreißigsten Mal an diesem Tag zog er den Zettel hervor, auf den Agnes sich selbst und ihn im Wald gezeichnet hatte. Das Papier war mittlerweile fleckig und an einigen Stellen eingerissen, die bunten Farben verblasst, doch noch immer glaubte Mathis, einen leichten Duft wahrzunehmen, der ihn an Agnes erinnerte. Seit Tagen war sie nicht mehr bei ihm gewesen. Erst hatte er sich eingeredet, dass es so das Beste sei, aber dann spürte er doch, wie sehr er sie vermisste. Warum nur musste sie die Tochter dieses verfluchten sturschädligen Burgvogts sein!
Schon wollte Mathis das Bild erbost zusammenknüllen, doch dann besann er sich, faltete es sorgfältig und steckte es unter sein Wams. Er stand auf und ging wie ein Raubtier im Käfig von einer Wand zur anderen. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her, fünf Schritte hin …
Einige Mäuse leisteten ihm bei seinem kurzen Spaziergang Gesellschaft. Mathis hatte sie mit ein paar Brocken Brot angefüttert, so dass sie im Laufe der Zeit immer zutraulicher geworden waren. In der Hoffnung auf Futter rannten sie fiepend vor seinen Füßen auf und ab. Eine von ihnen, ein wenig größer und frecher als die übrigen, hatte Mathis besonders ins Herz geschlossen. Auf ihrem grauen Fell leuchteten einige schwarze und weiße Tupfen. Mathis hatte sie spaßhaft Jockel getauft und warf ihr gelegentlich einen besonders großen Krümel hin. Soeben huschte Jockel über seinen rechten ledrigen Bundschuh und verschwand in einer Ecke des Kerkers, in der ein Haufen schmutziges Stroh lag. Mathis kniete sich hin und machte ein paar lockende Geräusche, doch die Maus blieb verschwunden. Sie musste noch immer irgendwo in dem Strohhaufen sein.
»Jockel, wo bist du? Komm schon raus, du Frechdachs.«
Vorsichtig näherte sich Mathis dem Haufen und wischte ihn mit dem Fuß beiseite.
»Hab dich!«
Doch Jockel war weg.
Wie war das möglich? Hatte er die Maus etwa zertreten? Mathis beugte sich verdutzt nach unten, als er das Loch in der Ecke sah, genau dort, wo die Steinplatten der Wand den Boden berührten. Neugierig griff er mit dem Finger hinein …
… und erstarrte.
Die Platte war nur wenige Zentimeter dick, dahinter befand sich ganz offensichtlich ein Hohlraum. Aufmerksam klopfte Mathis die Stelle rund um das Mauseloch ab. Tatsächlich war die etwa hüfthohe Platte dünner als die übrigen Wände, rechts und links von ihr befand sich massiver Stein. Er hatte die Stelle bislang nur nicht entdeckt, weil Stroh und Geröll davorgelegen hatten.
Nachdenklich runzelte Mathis die Stirn. Was hatte das zu bedeuten? Er wusste, dass der Bergfried oft der letzte Rückzugsort war, wenn der Feind die Burg stürmte. Die Mauern waren meist mehrere Meter dick, der Eingang nur durch eine Leiter zu erreichen. Aber gelegentlich führten Fluchttunnel nach draußen. Mittlerweile befanden sich dort, wo sich einst der Trifelser Bergfried erhoben hatte, zwar Kerker, Vorratskeller und darüber die Küche und die Wohngemächer. Aber wenn die Burg wirklich so alt war, wie Agnes immer erzählte, war es gut möglich, dass
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