Die Burg der Könige
es immer noch versteckte Gänge gab.
Gänge, die nach draußen führten.
Mathis’ Herz schlug wild. Er blickte im Schacht nach oben und versuchte sich zu orientieren. Die Platte befand sich an der dem Burghof abgewandten Seite. Von dort aus waren es nur etwa zwanzig Schritt bis hinter die westliche Burgmauer. Sollte er tatsächlich einen Fluchtweg gefunden haben?
Nun untersuchte er die Platte genauer. Sie war aus Felsgestein und bis auf das kleine Loch in der Ecke von den massiven Steinbrocken daneben nicht zu unterscheiden. In den Fugen klebte grauer Mörtel. Mathis kratzte daran, doch die Masse war hart wie Stein. In einer Ecke war eine winzige, fast nicht mehr leserliche Inschrift eingraviert.
Albertus faciebat leones expulsos esse …
Mathis runzelte die Stirn. Zwar hatte er in der Trifelser Bibliothek in einigen lateinischen Büchern geblättert und die für ihn wichtigen Stellen übersetzt, doch sein Wortschatz war immer noch spärlich. Hatte sich hier etwa in früherer Zeit ein Gefangener verewigt? Aber was auch immer die Inschrift bedeutete, die Zeit drängte. Er musste wissen, was sich hinter der Platte verbarg.
Hektisch sah Mathis sich nach einem provisorischen Werkzeug um, mit dem er den Mörtel herausschaben konnte. Schließlich griff er nach einem flachen Kiesel und begann, die Fugen zu bearbeiten. Es dauerte eine ganze Weile, doch nach einer guten Stunde hatte er den Mörtel so weit entfernt, dass ein nicht mal fingerdicker Spalt entstanden war. Prüfend drückte Mathis gegen die Platte, aber nichts geschah. Er warf sich fluchend dagegen, aber sie saß fest wie ein Stück Fels im Boden. Plötzlich stutzte er.
Fels im Boden?
Mathis nahm den Kiesel und kratzte an der Stelle, wo die Steintafel auf den Boden traf.
Es gab keinen Mörtel, nicht einmal eine winzige Fuge.
Nachdem Mathis einige weitere Minuten gekratzt hatte, musste er sich schließlich eingestehen, dass die Platte tatsächlich in den Boden eingelassen war. Wie tief, das ließ sich nicht sagen. Um das herauszufinden, hätte er graben müssen. Doch womit? Er besaß weder ein Messer noch einen Löffel. Und selbst wenn – wie lange würde er brauchen, um die Platte herauszubrechen? Wochen? Monate? Bis dahin hatte ihn Philipp von Erfenstein schon längst dem Annweiler Stadtvogt übergeben oder sich etwas anderes für ihn einfallen lassen.
Zutiefst niedergeschlagen kauerte sich Mathis in eine Ecke und vergrub sein schmutziges Gesicht in den Händen. Die anfängliche Freude über seinen Fund war in Verzweiflung umgeschlagen. Lange würde er es hier unten nicht mehr aushalten. Er musste hinaus, bevor ihn die Düsternis, die Enge und die Einsamkeit wahnsinnig machten! Er konnte keinen Monat mehr warten, auch keine Woche. Jeder einzelne Tag war schon zu viel!
Noch einmal klopfte er gegen die Steintafel. Jetzt kam sie ihm viel fester und dicker vor als zuvor. Ein zentnerschweres, unüberwindbares Hindernis. Wie sollte man ein solches Trumm Stein herausbrechen, wenn nicht …
Plötzlich stockte Mathis in seinem Gedankenfluss, ein feines Lächeln zog sich über sein Gesicht. Natürlich, es gab eine Möglichkeit! Sie war ungewöhnlich und riskant, ja beinahe wahnsinnig. Außerdem würde er damit alle Brücken hinter sich niederreißen. Aber wollte er das nicht ohnehin?
Wieder begann Mathis auf und ab zu gehen. Doch diesmal war es nicht Verzweiflung, was ihn antrieb, sondern angestrengtes Nachdenken.
In ihm reifte ein Plan.
***
Mit schnellen Schritten stieg Agnes den steilen Weg aus dem Tal hinauf zum Trifels. Sie war unten in Annweiler gewesen und hatte für Hedwig ein wenig frisches Salz und für sich selbst einen kleinen Ballen Stoff von minderer Qualität gekauft. Schon lange wollte sie Pater Tristan eine neue Kutte nähen, da die alte bereits so löchrig war, dass er darin fror. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, sich ein neues Gewand zuzulegen. In den letzten Tagen hatte Agnes nicht viel Zeit gehabt, an Mathis zu denken. Seitdem sie Pater Tristan auf seinem Gang nach Hahnenbach begleitet hatte, war der alte Mönch noch vier weitere Male in der Gegend auf Krankenbesuch gewesen. Jedes Mal war Agnes mitgegangen und hatte ihm geholfen, soweit es ihr möglich war. Sie hatte den gebrochenen Arm eines alten Mannes geschient, der bei der Feldarbeit gestürzt war; sie hatte einem vor Hunger und Fieber hohlwangigen Mädchen Heidelbeersaft gegen Durchfall eingeflößt; sie hatte einen Sud aus Honig und Salbei gegen trockenen Husten
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