Die Capitana - Roman
er das vergessen können. Er kommt aus dem Husten nicht mehr heraus. Aber noch ist Zeit.
Trotzdem darf er nicht vergessen, was er während der langen Behandlungen dachte: dass die Zeit nicht endlos ist.
Seit Hippo vor zwei Monaten aus dem Sanatorium entlassen worden war, spielten sie mit dem Gedanken, doch erst das beunruhigende Ergebnis der letzten Untersuchung und das Gespräch mit einem Spezialisten hatten sie zu dem Entschluss gebracht: Sie würden nach Spanien gehen. Das trockene Klima war das Beste für seine Gesundheit, und Spanien erlebte einen interessanten historischen Moment.
Vor einigen Monaten hatte ihre Freundin Marie-Louise, die in Madrid lebte, ihnen vorgeschlagen, zusammen in eine Wohnung zu ziehen, und letzte Woche hatte sie ihnen mitgeteilt, dass sie auch schon eine Arbeit gefunden hatte. Noch am selben Abend schrieb Mika ihr einen Brief, sie soll einen Bleistift zur Hand nehmen und ausrechnen, wie viel Geld sie bräuchten, um in Madrid zu viert einigermaßen gut über die Runden zu kommen: Mika, Hippo, Marie-Lou und ihr kleiner Sohn Jackie (ihren Gefährten Vicente Latorre zählte sie nicht mit, denn er arbeitete woanders und verbrachte nur die Wochenenden in Madrid), für einfaches, aber gesundes Essen, Gas, Strom, die Miete für eine kleine Dreizimmerwohnung, es wäre gut, das so bald wie möglich zu erfahren. Auch Hipólito schrieb an Marie-Lou: Sie soll nicht diesen Sack aus Haut und Knochen erwarten, den sie in Frankreich getroffen hat, er hat im Sanatorium zehn Kilo zugenommen, die Luft in Madrid wird das Ihrige tun, richte Jackie aus, bald bekommt er einen dicken Freund, mit dem er im Park spielen kann.
Noch bevor sie eine Antwort bekam, schickte Mika ihr einen weiteren Brief: Hippo wird Ende nächster Woche nach Madrid reisen und sich vor Ort ansehen, wie die praktischen Fragen zu lösen sein werden, er hat Kontakte zu Kameraden, Ideen, etwas Geld und große Hoffnungen. Du bist nicht allein, du kannst auf uns zählen, Marie-Lou, bald beginnt unser gemeinsames Abenteuer, du wirst sehen, was für ein schönes Leben wir zusammen haben werden.
Wenn sich nur diese Löcher in Hippos Lunge schließen, bitte, der Fleck soll verschwinden, die Bedrohung, er soll gesund werden ein für alle Mal.
Mika würde noch ein bis zwei Monate in Paris bleiben, um alles zu regeln und Geld zu verdienen, damit sie in Spanien unbeschwert leben konnten, sie hatte gute Arbeitsmöglichkeiten: Übersetzungen, Unterricht, Abschriften auf Maschine und was sich so ergab.
Und dann die Zelte abbrechen. Ein neues Leben. Spanien. Welche Freude.
Freude, und Angst. Etwas Gestaltloses, Düsteres, Bedrohliches beschleicht sie hier und da, ganz unvorhersehbar. Jetzt, da sie müde nach Hause kommt nach einem höllischen Tag, seit dem Morgen ist sie auf den Beinen, erst Unterricht, dann Erledigungen, am Nachmittag Kleider sortieren, Papiere ordnen, was oftmals noch schwieriger ist, und am Abend nimmt sie sich noch die Übersetzung vor, die Pepin ihr verschafft hat, zwei Francs pro Seite, das macht bei achtzig Seiten 160 Francs, sie will damit auf der Stelle anfangen, will Hippo Geld schicken, damit er nur ja keinen Mangel leidet. Er soll gut essen, sich schonen, Mittagsruhe halten, hat sie ihm bei seiner Abreise eingeschärft, versprich es mir.
Sie zieht die Schuhe aus und fällt aufs Bett, die Übersetzung muss bis morgen warten, sie ist zu erschöpft. Dann schläft sie eben früh und leidet nicht so viel. Obwohl sie viel allein war, monatelang während Hippos Aufenthalt im Sanatorium, macht ihr das Alleinsein jetzt, da sie so beladen ist mit Ahnungen, weit mehr zu schaffen. Eine eiserne Hand, die sie gepackt hält.
Hippo wird sich in Spanien erholen wie damals in Patagonien, versucht sie sich einzureden. Sie ist einfach nur traurig, weil sie Paris verlassen, sie haben diese Stadt so sehr geliebt. Und ihre roulotte , ihr Schlupfloch zwischen den Dächern von Paris, ihr Liebesnest, so klein und licht, so still, so fröhlich mit seinen Plakaten und seiner Luke zum Himmel, und dem süßen Klang der Glocken von Val-de-Grâce. Sie schlagen, weil du gekommen ist, hatte Mika zu Hippo gesagt, als er bei seinem ersten Urlaub vom Sanatorium die Dachkammer kennenlernte, nicht nur die Glocken, auch ihre Körper haben ihr Wiedersehen gefeiert.
Alles an diesem milden Abend erinnert sie an ihn, alles riecht nach Hippo, nach Liebe.
Sie zieht sich aus, streift das Nachthemd über, putzt sich die Zähne, wäscht sich das Gesicht, fährt
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