Die Champagnerkönigin
regeln, er ist schließlich der Verwalter«, sagte sie tonlos. Sie fühlte sich so schwach, dass sie nicht einmal eine Traube hätte zerdrücken können.
»Aber Sie sind die Chefin! Es gibt Dinge, die können nur Sie regeln. Claude und ich helfen Ihnen gern, aber …«
Isabelle schloss die Augen und ließ sich treiben im weiten Meer der Einsamkeit.
»In Monsieur Feiningers Kopf hat sich ein Blutgerinnsel gelöst. Niemand hat damit gerechnet. Und selbst wenn – niemand hätte es aufhalten können. Ein nicht vorhersehbares Unglück. Ein Schicksalsschlag. Gottes Fügung, Madame.«
Aus der Stimme des Arztes hatte Betroffenheit geklungen, aber auch ein gewisser Fatalismus. Der Mediziner kannte die Grenzen des menschlichen Seins, und die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es sinnlos war, dagegen anzukämpfen.
In diesem Moment hatte es angefangen: Isabelle hatte die Worte des Arztes gehört, sie hatte seinen mitfühlenden Blick gesehen, aber nichts gespürt. Ihr Gefühlsleben war von einem Moment auf den anderen abgestorben wie eine Pflanze, die man statt mit Wasser mit Gift begossen hatte. Sie spürte keine Trauer, keine Wut, keinen Hass auf den lieben Gott. Sie weinte nicht, und sie schrie nicht. Sie stellte dem Arzt auch keine Fragen. Sie wollte keine Details erfahren, sie bohrte nicht nach – wozu? Der Arzt täuschte sich, wenn er glaubte, das gehe sie etwas an. Ihr Mann war tot? Der Mann, der so viele Pläne hatte? Der Mann, der sich so darauf freute, Vater zu werden? Das konnte nicht sein. Eine Verwechslung. So sehr vermochte sich das Schicksal nicht zu irren. Sie hatte ihr Herz davor verschlossen, so wie man die Augen schloss, wenn man einen Anblick nicht ertragen konnte.
Ruhig und ohne Tränen zu vergießen, hatte sie Leons Sachen gepackt und war nach Hause gefahren. Leons Eltern hatte sie ein kurzes Telegramm geschickt. Schon auf dem Heimweg vom Postamt hatte sie den Inhalt vergessen. Es war nichts, was sie etwas anging. Als der Pfarrer kam und mit ihr über die Beerdigung sprechen wollte, hatte sie jeden Punkt, so gut es ging, geregelt. Leon sollte seine Radfahrdkluft tragen. Und die Mütze, die er in Jacques’ Kleiderschrank gefunden und seitdem so gern aufgesetzt hatte. Blumenschmuck? Nein, sie würde es bevorzugen, wenn man ihm ein paar Weinranken auf den Sarg legte. Im Grunde war es sowieso gleichgültig. Ein Irrtum. Ein Alptraum, aus dem sie bald erwachen würde.
Fast das ganze Dorf wohnte der Beerdigung bei. Aus Charleville, einer Stadt nordöstlich von Reims gelegen, waren die Mitglieder eines Radsportvereins gekommen. Ihre Kappen in der Hand haltend, zollten sie dem toten Kollegen in Fahrradmontur ihren Respekt. Auch Leons Mutter war angereist, stumm und zitternd wie Espenlaub stand sie neben Isabelle, und niemand wusste, wer bedauernswerter war: die Mutter des Toten oder die Witwe.
Trauer umwehte alle Anwesenden. Es spielte keine Rolle mehr, dass die Menschen von Hautvillers die rothaarige l’Allemande und ihren Mann argwöhnisch betrachtet hatten. Dass man die Radsportleidenschaft Leons belächelt hatte. Dass es so manchen wütend machte, zu sehen, wie Jacques Feiningers Erbe an den »Falschen« geraten war. In Zeiten der Not stand man in der Champagne zusammen. Als Witwe war Isabelle Feininger eine von ihnen.
Mit kalkweißer starrer Miene stand Isabelle am Grab. Sie schüttelte unzählige Hände. Sie hörte tröstende Worte oder zumindest tat sie so. Viele der Trauergäste, unter denen sich auch Raymond Dupont aus Reims befand, überreichten ihr einen Briefumschlag. Micheline erklärte ihr, dass sich darin kleine Geldbeträge befanden – ein Zuschuss zu den hohen Beerdigungskosten. Der Vorsitzende des Radsportvereins von Charleville drückte Isabelle ebenfalls einen Geldumschlag in die Hand und sagte: »Leon Feininger war ein besonderer Fahrer. Wir haben ihn alle sehr bewundert. Die Radsportwelt wird ohne ihn sehr viel ärmer sein. Falls Sie jemals unsere Hilfe benötigen, sagen Sie Bescheid!« Isabelle, die nicht einmal gewusst hatte, dass Leon in irgendeiner Verbindung zu diesem Radsportverein stand, bedankte sich brav. Auch in anderen Momenten sagte sie hie und da einen Satz und lächelte sogar manchmal.
Wie gefasst und tapfer l’Allemande doch war, sagten die Menschen hochachtungsvoll.
Ihre Anteilnahme perlte an Isabelle ab wie Wasser am Gefieder eines Schwans. Sie anzunehmen hätte bedeutet, Gefühle zuzulassen und zu zeigen. Das war zu schmerzhaft. Nur einmal erwachte sie
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