Die Chancellor
haben!
Ich halte es für geraten, Mrs. Kear die Flucht ihres
Mannes zu verheimlichen. Die bedauernswerte Frau
wird vom Fieber furchtbar geschüttelt, gegen das wir
völlig machtlos dastehen, weil das Schiff so schnell ge-
sunken ist, daß auch die Arzneikiste nicht zu retten war.
Und wenn wir auch Arzneimittel gehabt hätten, welchen
Erfolg hätten sie bei dem Zustand, in dem sich Mrs. Kear
tatsächlich befand, wohl noch erzielen können?
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Fortsetzung 6. Dezember. – Die ›Chancellor‹ wird jetzt
im Wasser nicht mehr ganz im Gleichgewicht gehalten,
und sie droht allmählich unterzugehen.
Glücklicherweise soll das Floß noch diesen Abend
fertig werden, und man wird sich darauf einrichten
können, wenn Robert Kurtis es nicht vorzieht, damit bis
zum Tagesanbruch zu warten. Der Unterbau ist sehr fest
ausgeführt. Seine Balken sind mit starken Tauen ver-
bunden, und da sie kreuzweise übereinander liegen, er-
hebt sich das Ganze etwa um 2 Fuß über das Wasser.
Die Plattform ist aus Planken der Schanzkleidung
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hergestellt, die die Wellen abgerissen haben und die
man geschickt verwendet hat. Schon im Lauf des Nach-
mittags beginnt man, es mit allem, was an Lebensmit-
teln, Segelwerk, Instrumenten und Werkzeugen gerettet
worden ist, zu beladen. Eile tut not, denn der Mastkorb
des Mittelmastes ragt nur noch 10 Fuß über das Meer
empor, und vom Bugspriet ist nur noch die äußerste
schief aufsteigende Spitze sichtbar. Ich würde mich sehr
wundern, wenn der morgige Tag nicht der letzte der
›Chancellor‹ wäre!
Und in welchem moralischen Zustand befinden wir
uns nun? Ich suche mir klarzuwerden über mein ei-
genes Innere, und es scheint mir, daß ich mehr zu ei-
ner unbewußten Teilnahmslosigkeit hinneige, als zu
dem Gefühl der Ergebung. Mr. Letourneur lebt ganz
in seinem Sohn, der seinerseits wieder nur an den Va-
ter denkt. André zeigt übrigens eine mutige, würdige,
christliche Resignation, die ich nicht besser als mit der-
jenigen Miss Herbeys zu vergleichen vermag. Falsten
ist stets der alte, und, Gott verzeihe mir, der Ingenieur
rechnet noch immer in seinem Notizbuch! Mrs. Kear
geht trotz der Sorgfalt des jungen Mädchens und der
meinigen der Auflösung mehr und mehr entgegen.
Von den Matrosen sind zwei oder drei ganz ruhig, die
andern aber nah daran, den Kopf zu verlieren, einige
scheint ihr rohes Naturell zu Exzessen zu verführen. Die
Leute, die dem verderblichen Einfluß Owens und Jynx-
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trops unterliegen, werden schwer im Zaum zu halten
sein, wenn wir mit ihnen auf dem beschränkten Floß
zusammenleben müssen!
Leutnant Walter ist ganz entkräftet; trotz seines Muts
hat er darauf verzichten müssen, länger Dienst zu tun.
Robert Kurtis und der Bootsmann sind energische, un-
erschütterliche Männer, welche die Natur »in ihrem
besten Feuer geschmiedet hat«.
Gegen 5 Uhr abends hat eine unserer Unglücks-
gefährtinnen aufgehört zu leiden. Mrs. Kear ist nach
schmerzlichem Todeskampf, doch wahrscheinlich ohne
Bewußtsein unserer Lage, verschieden. Sie stieß nur ei-
nige Seufzer aus, und alles war vorüber. Bis zum letzten
Augenblick hat Miss Herbey mit einer uns alle tief er-
greifenden Ergebenheit der Herrin ihre ganze Sorgfalt
gewidmet!
Die Nacht verging ohne allen weiteren Zwischen-
fall. Am Morgen, beim ersten Tagesgrauen, habe ich
die Hand der Toten ergriffen, die schon ganz erkaltet
und starr war. Den Körper konnten wir nicht länger im
Mastkorb behalten. Miss Herbey und ich wickeln sie
in ihre Kleider, sprechen ein stilles Gebet für die Seele
der unglücklichen Frau und – das erste Opfer so vielen
Elends stürzt in die Fluten.
Da ruft einer der Leute, die sich in den Strickleitern
befinden, uns die entsetzlichen Worte zu:
»Da, um diese Leiche wird es uns noch leid tun!«
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Ich drehe mich um. Es war Owen, der das sagte.
Dann beschleicht mich aber der Gedanke, daß die
Lebensmittel uns wirklich mit der Zeit ausgehen könn-
ten!
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7. Dezember. – Das Schiff sinkt weiter; das Meer ist nun
bis zu den Spinnenköpfen des Besanmasts gestiegen.
Oberdeck und Vorderkastell sind vollständig überflutet;
die Spitze des Bugspriets ist verschwunden, und nur die
drei Masten erheben sich noch über den Ozean.
Doch das Floß liegt bereit und ist mit allem beladen,
was zu retten war. An seinem Vorderteil ist eine Öff-
nung ausgespart, die einen Mast aufnehmen soll,
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