Die Chancellor
Leutnant
Miss Herbey und mir mit einer kaum noch zu verste-
henden Stimme seinen Dank ausgesprochen.
»Mr. Kazallon«, flüsterte er und ließ einen zerknit-
terten Brief aus seiner zitternden Hand gleiten, »dieser
Brief . . . von meiner Mutter . . ., ich habe keine Kräfte
mehr . . . der letzte, den ich erhielt . . . sie schreibt mir:
›Ich erwarte Dich, mein Kind, ich will Dich wiederse-
hen!‹ Nein, Mutter, du wirst mich nicht mehr wieder-
sehen! Mr. . . . diesen Brief . . . legen sie ihn dahin, auf
meine Lippen, da . . . dahin, ihn küssend will ich sterben
. . . meine Mutter . . . mein Gott . . .!«
Ich habe den Brief aus Leutnant Walters schon erkal-
teter Hand genommen und ihn auf seine Lippen gelegt.
Noch einen Augenblick schien sein Auge aufzuleuchten,
und wir hörten ein schwaches Geräusch, wie von einem
Kuß!
Er ist tot, der Leutnant Walter! Gott sei seiner Seele
gnädig!
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8. Januar. – Die ganze Nacht über bin ich neben dem to-
ten Körper geblieben, und Miss Herbey hat wiederholt
Gebete für sein Seelenheil verrichtet.
Bei Anbruch des Tages ist der Leichnam völlig erkal-
tet. Ich hatte Eile . . . ja! Eile, ihn ins Meer zu werfen, und
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ersuchte Robert Kurtis, mir bei diesem traurigen Ge-
schäft zu helfen. Nach Einhüllung in seine Kleidungs-
stücke werden wir ihn den Wellen übergeben, und ich
hoffe, daß er bei seiner außerordentlichen Magerkeit
nicht schwimmen wird.
Mit Tagesgrauen treffen wir, Robert Kurtis und ich,
gewisse Vorsichtsmaßnahmen, nicht gesehen zu wer-
den, und entnehmen den Taschen des Leutnants noch
einige Gegenstände, die dessen Mutter zugestellt wer-
den sollen, wenn einer von uns am Leben bleibt.
Eben als ich den Leichnam in die Kleidungsstücke
bringen will, die ihm als Bahrtuch dienen sollen, kann
ich eine Bewegung des Entsetzens nicht unterdrücken.
Der rechte Fuß fehlt, das Bein ist nur noch ein bluti-
ger Stumpf !
Wer ist der Urheber dieser Schändung! Ich bin also
doch wohl in der Nacht einmal der Ermüdung erlegen,
und jemand hat sich meinen Schlummer zunutze ge-
macht, diesen Körper zu zerstümmeln. Aber wer, wer
hat das getan?
Robert Kurtis sieht ringsumher, und seine Augen
sprühen Flammen. An Bord merkt man nichts Unge-
wöhnliches, nur einige Jammerlaute unterbrechen das
Schweigen. Vielleicht belauert man uns! Eilen wir, die
Überreste ins Meer zu bringen, um noch schrecklichere
Auftritte zu vermeiden.
Nach einem kurzen Gebet des Kapitäns lassen wir
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den Leichnam in die Fluten gleiten, in denen er sofort
versinkt.
»Donnerwetter! Die Haie werden gut gemästet!«
Wer sprach das? Ich drehe mich um. Es war der Ne-
ger Jynxtrop.
Der Bootsmann stand gleichfalls in meiner Nähe.
»Vermuten Sie«, sage ich zu ihm, »daß jene Unglück-
lichen diesen Fuß . . .«
»Diesen Fuß . . . ah, ja!« erwidert mir der Hochboots-
mann. »Im übrigen war das ihr Recht.«
»Was? Ihr Recht?« rufe ich erstaunt.
»Herr«, entgegnet der Hochbootsmann, »es ist besser,
einen Toten zu verzehren, als einen Lebendigen!«
Diese frostige Antwort läßt mich verstummen, und
ich gehe, um mich zu sammeln, nach dem Heck des Flo-
ßes.Gegen 11 Uhr überrascht uns ein glücklicher Zufall.
Der Hochbootsmann, der schon seit dem Morgen seine
Angelschnüre wieder hat nachschleppen lassen, erzielt
einen Erfolg, – er hat drei Fische gefangen. Es sind drei
ziemlich große Schellfische von 24 Zentimeter Länge
und gehören zu der Art, die getrocknet unter dem Na-
men »Stockfisch« bekannt ist.
Kaum hat der Hochbootsmann die drei Fische an
Bord gezogen, da stürzen sich die Matrosen darauf. Ka-
pitän Kurtis, Falsten und ich werfen uns dazwischen,
und die Ordnung ist bald wiederhergestellt. Es ist frei-
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lich wenig, drei Schellfische für 14 Verhungerte, doch
es bekommt jeder seinen Teil. Die einen verschlingen
die Fische roh, man möchte sagen, noch lebend, und
das tun die meisten. Robert Kurtis, André Letourneur
und Miss Herbey haben die Überwindung, zu warten.
Auf einer Ecke des Floßes entzünden sie mittels eini-
ger Stückchen Holz ein Feuer und rösten ihren Anteil.
Ich habe nicht denselben Mut gehabt und verzehre das
Fleisch noch blutend!
Mr. Letourneur ist nicht weniger ungeduldig gewe-
sen, als ich und die meisten anderen. Wie ein ausgehun-
gerter Wolf stürzte er sich auf das ihm zukommende
Stück Fisch. Wie vermag dieser unglückliche Mann,
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