Die Chancellor
Kapitän sagt es mir zu. Doch die Flüssigkeit der
ersten Tonne ist zu Ende gegangen, und ich will meinen
Bedarf also aus der zweiten noch unberührten entneh-
men, als Owen sich auf die Knie erhebt und mit einer
Stimme, die kaum noch eine menschliche zu nennen ist,
ausruft:
»Nein! Nein! Nein!«
Warum dieses Nein? Ich kehre zu Owen zurück und
erkläre ihm, was ich vorhabe. Noch entschiedener wi-
dersetzt er sich aber, von diesem Wasser zu trinken.
Ich versuche demnach durch Kitzeln des Schlundes
bei dem Unglücklichen Erbrechen zu erzeugen, und
bald gibt er auch bläuliche Massen von sich. Es ist nur
zu gewiß, daß Owen mit einem Kupfersulfat, mit Kup-
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fervitriol vergiftet ist, und was wir auch vornehmen,
Owen ist verloren!
Aber auf welche Weise hat er sich vergiften können?
Das Erbrechen hat ihm einige Erleichterung verschafft,
und er vermag endlich zu sprechen. Der Kapitän und
ich, wir fragen ihn . . .
Ich mag es gar nicht versuchen, den Eindruck zu
schildern, den die Antwort des Unglücklichen auf uns
machte!
Owen hat, von unbezähmbarem Durst getrieben, ei-
nige Pinten Wasser aus der noch unberührten Tonne
gestohlen, und das Wasser daraus ist vergiftet!
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11. bis 14. Januar. – Owen ist in der Nacht unter teta-
nischen Zuckungen, die einen seltenen Grad der Inten-
sität erreichten, gestorben. Es ist nur zu wahr! Die ver-
giftete Tonne hat früher Kupfervitriol enthalten, das ist
Tatsache. Durch welchen unglücklichen Mißgriff diese
Tonne gerade als Wasserbehälter benutzt wurde und
durch welchen bedauernswerten Zufall gerade sie auf
das Floß mit verladen worden ist . . .? All das ist ja jetzt
auch egal. Eins steht fest: daß wir kein Wasser mehr ha-
ben!
Owens Körper mußte sofort ins Meer geworfen wer-
den, da er unmittelbar nach dem Tod in Zersetzung
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überging, und der Hochbootsmann hätte nicht einmal
seine Leine mit dem toten Fleisch als Köder versehen
können, da dieses jeden Zusammenhang verloren hatte.
Der Tod dieses Elenden ist für uns nicht einmal von
Nutzen gewesen!
Wir alle kennen unsere tatsächliche Situation und
verhalten uns still in dumpfem Brüten. Was sollten wir
auch sprechen? Schon den Ton unserer Stimme zu hö-
ren berührt uns schmerzlich. Bei unserer übermäßigen
Reizbarkeit ist es besser, daß wir gar nicht reden, denn
das geringste Wort, ein Blick, eine Geste könnten aus-
reichen, unberechenbare Folgen hervorzurufen. Ich be-
greife nicht, wie es kommt, daß wir noch nicht alle von
Sinnen sind!
Am 12. Januar haben wir keinen Tropfen Wasser er-
halten, da der letzte Tropfen tags vorher ausgeschöpft
war. Am Himmel ist keine Wolke, die etwas Regen ver-
spräche, und ein Thermometer zeigte im Schatten ge-
wiß 40 ° C., wenn auf dem Floß überhaupt an Schatten
zu denken wäre.
Am 13. ist die Lage die gleiche. Das Meerwasser be-
ginnt auch mir die Füße wundzuätzen, doch das beachte
ich fast gar nicht. Auch der Zustand derjenigen, die an
diesem Übel schon längst leiden, ist dadurch nicht we-
sentlich verschlimmert.
Oh, dieses Wasser, das uns rings umgibt, wenn ich be-
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denke, daß wir es durch Verdampfen oder Gefrierenlas-
sen trinkbar zu machen imstande wären!
In Dampf oder Eis verwandelt würde es keine Spur
Salz mehr enthalten, und man könnte es trinken! Aber
uns fehlen alle Hilfsmittel, und wir vermögen sie auch
nicht herzustellen.
Heute haben sich, auf die Gefahr hin, von Haien ver-
schlungen zu werden, der Bootsmann und zwei Matro-
sen gebadet. Solch ein Bad gewährt ihnen eine gewisse
Erleichterung und erfrischt sie doch einigermaßen.
Drei meiner Genossen und ich – die wir nicht schwim-
men können – haben uns an ein Seil befestigt und sind
wohl eine halbe Stunde lang im Meer geblieben. Robert
Kurtis überwachte dabei die Wellen, und zum Glück
hat sich kein Hai genähert. Trotz unserer Bitten und ih-
rer quälenden Leiden hat Miss Herbey unserm Beispiel
nicht folgen wollen.
Am 14., gegen 11 Uhr morgens, nähert sich mir der
Kapitän und flüstert mir ins Ohr:
»Vermeiden Sie jede Bewegung, die Sie verraten
könnte, Herr Kazallon, denn ich könnte mich irren, und
ich möchte den andern eine neue Enttäuschung erspa-
ren.«
Ich sehe Robert Kurtis erwartungsvoll an.
»Dieses Mal«, sagt er zu mir, »habe ich wirklich ein
Schiff wahrgenommen!«
Der Kapitän hat gut daran getan, mich vorzuberei-
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ten, denn
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