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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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der
    so lange Zeit nichts gegessen hat, überhaupt noch zu le-
    ben? – Ich begreife das nicht.
    Ich erwähnte die große Freude des Bootsmanns, als
    er seine Angelleinen einzog, und diese Freude steigert
    sich fast bis zum Wahnwitz. Wenn der Fischfang noch
    weitere Beute liefert, ist es sicher, daß er uns vor einem
    grauenvollen Tod rettet.
    Ich spreche deshalb mit dem Hochbootsmann und
    treibe ihn an, seine Versuche zu wiederholen.
    »Jawohl!« antwortet er mir, »ja . . . gewiß . . . ich werde
    es tun . . .!«
    »Und warum legen Sie die Schnüre nicht schon wie-
    der ein?«
    »Jetzt nicht!« erwidert er ausweichend. »Die Nacht
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    ist günstiger als der Tag zum Fang der größeren Fi-
    sche, und wir dürfen auch den Köder nicht verschwen-
    den, denn vorhin haben wir Dummköpfe auch nicht ein
    Stückchen übriggelassen, um es zum nächsten Fisch-
    fang zu verwenden!«
    Das ist wahr, und der Fehler vielleicht nicht wieder
    gutzumachen.
    »Indessen«, werfe ich ein, »da es Ihnen das erste Mal
    gelang ohne Lockspeise . . .«
    »Ich hatte welche.«
    »Eine gute?«
    »Eine ausgezeichnete, Herr, da jene Fische darauf an-
    bissen!«
    Ich sehe den Bootsmann an, dessen Blick auch auf
    mir haftet.
    »Haben Sie auch noch etwas für Ihre Angelhaken üb-
    rig?« frage ich.
    »Jawohl«, antwortete der Seemann mit leiser Stimme
    und wendet sich ohne ein weiteres Wort weg.
    Die dürftige Nahrung hat uns aber doch einige Kräfte
    gegeben und neue Hoffnungen geweckt. Wir sprechen
    von dem Fischfang des Hochbootsmanns und können
    es gar nicht glauben, daß dieser nicht wieder von Erfolg
    sein werde. Sollte das Geschick endlich satt sein, uns zu
    prüfen?
    Ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß in unserem
    Geist eine Veränderung vor sich gegangen ist, liegt für
    — 238 —
    mich darin, daß wir anfangen, von der Vergangenheit
    zu reden. Unsere Gedanken sind nicht einzig und al-
    lein auf die martervolle Gegenwart gerichtet oder auf
    die furchtbare Zukunft, die uns doch drohend bevor-
    steht. Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, der
    Kapitän Kurtis und ich erinnern uns der einzelnen Vor-
    kommnisse seit dem Schiffbruch, lassen die Bilder der
    Umgekommenen an uns vorüberziehen, die Details der
    Feuersbrunst, die Strandung des Fahrzeugs, das Ham-
    Rock-Eiland, das Leck, die schreckliche Fahrt in den
    Mastkörben, das Floß, den Sturm, all jene Zufälle, die
    uns jetzt so fernzuliegen scheinen. Ja! Alles das hat uns
    betroffen, und doch leben wir noch!
    Wir leben! Aber kann man diesen Zustand wirklich
    ein »Leben« nennen? Von 28 sind wir nur noch 14 üb-
    rig, bald vielleicht nur noch 13.
    »Eine böse Zahl!« sagt der junge Letourneur, »doch
    würden wir wohl große Mühe haben, einen Vierzehn-
    ten* für uns zu finden!«
    In der Nacht vom 8. zum 9. hat der Hochbootsmann
    seine Leinen aufs neue ausgelegt und ist selbst auf dem
    Heck des Floßes geblieben, da er ihre Überwachung
    niemandem anvertrauen wollte.
    * In Paris leben eine Anzahl Leute von dem sonderbaren Ge-
    werbe, bei Gesellschaften, die zufällig nur aus dreizehn Perso-
    nen bestehen, zur Aushilfe als »Vierzehnte« einzuspringen.
    — 239 —
    Am Morgen gehe ich auf ihn zu. Kaum graut der Tag,
    und mit den brennenden Augen sucht der Angler schon
    die Dunkelheit des Wassers zu durchdringen. Er hat
    mich weder schon gesehen, noch kommen hören.
    Ich berühre leise seine Schulter; er wendet sich halb

erschrocken um.
    »Nun, wie steht’s, Bootsmann?«
    »Die verdammten Haie haben mir den Köder wegge-
    schnappt!« antwortet er mit tonloser Stimme.
    »Und sie haben keinen mehr?«
    »Nein! Und wissen Sie, was damit bewiesen ist?« fügt
    er hinzu und drückt mir den Arm. »Damit ist bewiesen,
    daß man nichts bloß halb tun soll . . .«
    Ich lege meine Hand auf seinen Mund; ich habe ihn
    verstanden!
    Armer Walter . . .!
    42
    9. und 10. Januar. – Heute herrscht in der Atmosphäre
    um uns wieder vollkommene Ruhe. Die Sonne brennt,
    die Brise schweigt ganz und gar und keine Furche unter-
    bricht die langen Wellen des Meeres, das sich unmerk-
    lich hebt. Wenn keine Strömung vorhanden ist, deren
    Richtung wir nicht zu bestimmen imstande sind, muß
    das Floß ganz unbeweglich fest stehen.
    Ich sagte, daß die Hitze heute unerträglich sei; unser
    — 240 —
    Durst ist aber infolgedessen noch weit unerträglicher.
    Zum ersten Mal leiden wir ganz entsetzlich unter dem
    Wassermangel, und mir wird nun deutlicher, daß die
    Qualen des Durstes noch

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