Die Chancellor
der
so lange Zeit nichts gegessen hat, überhaupt noch zu le-
ben? – Ich begreife das nicht.
Ich erwähnte die große Freude des Bootsmanns, als
er seine Angelleinen einzog, und diese Freude steigert
sich fast bis zum Wahnwitz. Wenn der Fischfang noch
weitere Beute liefert, ist es sicher, daß er uns vor einem
grauenvollen Tod rettet.
Ich spreche deshalb mit dem Hochbootsmann und
treibe ihn an, seine Versuche zu wiederholen.
»Jawohl!« antwortet er mir, »ja . . . gewiß . . . ich werde
es tun . . .!«
»Und warum legen Sie die Schnüre nicht schon wie-
der ein?«
»Jetzt nicht!« erwidert er ausweichend. »Die Nacht
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ist günstiger als der Tag zum Fang der größeren Fi-
sche, und wir dürfen auch den Köder nicht verschwen-
den, denn vorhin haben wir Dummköpfe auch nicht ein
Stückchen übriggelassen, um es zum nächsten Fisch-
fang zu verwenden!«
Das ist wahr, und der Fehler vielleicht nicht wieder
gutzumachen.
»Indessen«, werfe ich ein, »da es Ihnen das erste Mal
gelang ohne Lockspeise . . .«
»Ich hatte welche.«
»Eine gute?«
»Eine ausgezeichnete, Herr, da jene Fische darauf an-
bissen!«
Ich sehe den Bootsmann an, dessen Blick auch auf
mir haftet.
»Haben Sie auch noch etwas für Ihre Angelhaken üb-
rig?« frage ich.
»Jawohl«, antwortete der Seemann mit leiser Stimme
und wendet sich ohne ein weiteres Wort weg.
Die dürftige Nahrung hat uns aber doch einige Kräfte
gegeben und neue Hoffnungen geweckt. Wir sprechen
von dem Fischfang des Hochbootsmanns und können
es gar nicht glauben, daß dieser nicht wieder von Erfolg
sein werde. Sollte das Geschick endlich satt sein, uns zu
prüfen?
Ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß in unserem
Geist eine Veränderung vor sich gegangen ist, liegt für
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mich darin, daß wir anfangen, von der Vergangenheit
zu reden. Unsere Gedanken sind nicht einzig und al-
lein auf die martervolle Gegenwart gerichtet oder auf
die furchtbare Zukunft, die uns doch drohend bevor-
steht. Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, der
Kapitän Kurtis und ich erinnern uns der einzelnen Vor-
kommnisse seit dem Schiffbruch, lassen die Bilder der
Umgekommenen an uns vorüberziehen, die Details der
Feuersbrunst, die Strandung des Fahrzeugs, das Ham-
Rock-Eiland, das Leck, die schreckliche Fahrt in den
Mastkörben, das Floß, den Sturm, all jene Zufälle, die
uns jetzt so fernzuliegen scheinen. Ja! Alles das hat uns
betroffen, und doch leben wir noch!
Wir leben! Aber kann man diesen Zustand wirklich
ein »Leben« nennen? Von 28 sind wir nur noch 14 üb-
rig, bald vielleicht nur noch 13.
»Eine böse Zahl!« sagt der junge Letourneur, »doch
würden wir wohl große Mühe haben, einen Vierzehn-
ten* für uns zu finden!«
In der Nacht vom 8. zum 9. hat der Hochbootsmann
seine Leinen aufs neue ausgelegt und ist selbst auf dem
Heck des Floßes geblieben, da er ihre Überwachung
niemandem anvertrauen wollte.
* In Paris leben eine Anzahl Leute von dem sonderbaren Ge-
werbe, bei Gesellschaften, die zufällig nur aus dreizehn Perso-
nen bestehen, zur Aushilfe als »Vierzehnte« einzuspringen.
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Am Morgen gehe ich auf ihn zu. Kaum graut der Tag,
und mit den brennenden Augen sucht der Angler schon
die Dunkelheit des Wassers zu durchdringen. Er hat
mich weder schon gesehen, noch kommen hören.
Ich berühre leise seine Schulter; er wendet sich halb
erschrocken um.
»Nun, wie steht’s, Bootsmann?«
»Die verdammten Haie haben mir den Köder wegge-
schnappt!« antwortet er mit tonloser Stimme.
»Und sie haben keinen mehr?«
»Nein! Und wissen Sie, was damit bewiesen ist?« fügt
er hinzu und drückt mir den Arm. »Damit ist bewiesen,
daß man nichts bloß halb tun soll . . .«
Ich lege meine Hand auf seinen Mund; ich habe ihn
verstanden!
Armer Walter . . .!
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9. und 10. Januar. – Heute herrscht in der Atmosphäre
um uns wieder vollkommene Ruhe. Die Sonne brennt,
die Brise schweigt ganz und gar und keine Furche unter-
bricht die langen Wellen des Meeres, das sich unmerk-
lich hebt. Wenn keine Strömung vorhanden ist, deren
Richtung wir nicht zu bestimmen imstande sind, muß
das Floß ganz unbeweglich fest stehen.
Ich sagte, daß die Hitze heute unerträglich sei; unser
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Durst ist aber infolgedessen noch weit unerträglicher.
Zum ersten Mal leiden wir ganz entsetzlich unter dem
Wassermangel, und mir wird nun deutlicher, daß die
Qualen des Durstes noch
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