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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Wiedererwa-
    chen wundere ich mich, meine Leidensgefährten noch
    lebend zu finden.
    Derjenige von uns, der am wenigsten zu leiden
    scheint, ist der Steward Hobbart, von dem bis jetzt nur
    wenig die Rede gewesen ist. Es ist ein kleiner Mann von
    zweideutigem Aussehen, mit schmeichlerischen Blicken
    und einem ewigen Lächeln, »das aber nur seine Lip-
    pen angeht«; seine Augen sind stets halb geschlossen,
    so als wollte er seine Gedanken verbergen, und seine
    ganze Erscheinung atmet Falschheit. Er ist ein Heuch-
    ler, ich schwöre darauf. Und wirklich, wenn ich sagte,
    daß ihm die Entbehrungen am wenigsten zuzusetzen
    schienen, so ist damit nicht etwa gesagt, daß er keine
    Klagen laut werden ließe. Im Gegenteil, er seufzt ohne
    Unterlaß, aber ich weiß nicht, warum mir sein Gewim-
    mer nur affektiert vorkommt. Es wird sich das wohl zei-
    gen. Ich werde diesen Menschen beobachten, denn ich
    habe einen Verdacht gegen ihn, über den ich mir gern
    klar würde.
    Heute, am 6. Januar, nimmt mich Mr. Letourneur bei-
    seite, führt mich nach dem Heck des Floßes, und das
    mit dem Aussehen, als habe er mir eine »geheime Mit-
    teilung« zu machen. Er wünscht weder gesehen noch
    gehört zu werden.
    Ich begebe mich mit ihm nach der hinteren Ecke des
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    Backbord, und nachdem der Abend angebrochen ist,
    vermag uns niemand mehr zu sehen.
    »Mein Herr«, beginnt Mr. Letourneur mit leiser
    Stimme, »André ist sehr schwach! Mein Sohn stirbt
    mir vor Hunger! Ich kann das nicht lange mit ansehen!
    Nein, ich kann es nicht!«
    Mr. Letourneur spricht in einem Ton, dem man den
    verhaltenen Zorn anmerkt, und sein Akzent hat etwas
    Wildes an sich; doch begreife ich wohl, wie dieser Vater
    leiden mag!
    »Lieber Herr«, sage ich und ergreife seine Hand, »ver-
    zweifeln wir noch nicht. Wenn ein Schiff . . .«
    »Ich verlange von Ihnen keine billigen Trostworte«,
    unterbricht mich der arme Vater. »Es wird hier kein
    Schiff vorbeikommen, das wissen Sie recht gut. Nein, es
    geht um etwas anderes. Seit wann hat mein Sohn, haben
    Sie selbst und wir alle nichts gegessen?«
    Diese Frage läßt mich einigermaßen erstaunen, und
    ich antworte:
    »Seit dem 2. Januar ist der Zwieback ausgegangen.
    Wir haben jetzt den 6., es sind demnach 4 Tage, daß
    . . .«»Daß Sie nichts gegessen haben! Nun gut, bei mir
    sind es schon 8!«
    »8 Tage!«
    »Ja! Ich habe für meinen Sohn gespart!«
    Bei diesen Worten brechen ihm Tränen aus den Au-
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    gen. Ich fasse Mr. Letourneurs Hand. Kaum bin ich
    imstande zu reden. Ich sehe ihn bewundernd an . . .
    8 Tage!
    »Herr! Mein Herr«, sage ich endlich, »was verlangen
    Sie von mir?«
    »Halt! Nicht so laut! Es darf uns niemand hören!«
    »So sprechen Sie . . .!«
    »Ich möchte . . .«, und seine Stimme wurde noch lei-
    ser, »ich wünsche, daß Sie André von meinem Ersparten
    anbieten . . .«
    »Aber können Sie das nicht selbst . . .?«
    »Nein, nein! Er würde glauben, daß ich mich für ihn
    beraubt habe . . . er würde es nicht annehmen . . . nein, es
    muß von Ihnen kommen . . .«
    »Mr. Letourneur . . .!«
    »Aus Mitleid«, bittet mich der unglückliche Vater,
    »aus Erbarmen leisten Sie mir diesen Liebesdienst, den
    größten, um den ich Sie angehe . . . übrigens . . . für Ihre
    Bemühung . . .«
    Mr. Letourneur ergreift meine Hand und streichelt
    sie zärtlich.
    »Für Ihre Bemühung können Sie ja auch ein wenig
    davon essen . . .!«
    Armer Vater! Bei seinen Worten zittere ich wie ein
    Kind! Mein ganzes Wesen ist in Aufregung und mein
    Herz arbeitet zum Zerspringen. Gleichzeitig fühle ich,
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    wie Mr. Letourneur ein Stück Schiffszwieback in meine
    Hand gleiten läßt.
    »Nehmen Sie sich in acht, daß niemand Sie gewahr
    wird«, sagt er. »Die Ungeheuer fielen über Sie her und
    töteten Sie! Das ist nur für einen Tag, doch morgen
    werde ich Ihnen ebensoviel übergeben!«
    Der Unglückliche traut mir nicht! Vielleicht hat er
    recht, denn sowie ich das Stück Zwieback in meinen
    Händen fühle, kann ich’s mir kaum verwehren, es zum
    Mund zu führen!
    Doch ich habe mich überwunden, und wer diese Zei-
    len liest, wird begreifen, was meine Feder jetzt nicht zu
    schildern vermag.
    Mit der in diesen niedrigen Breiten eigentümlichen
    Schnelligkeit ist die Nacht hereingebrochen. Ich schlei-
    che mich vorsichtig zu André Letourneur und biete ihm
    das kleine Stückchen Zwieback an, »so als ob es von mir
    käme«!
    Der junge Mann erfaßt es mit Begierde.
    »Und mein

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