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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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André Letour-
    neur hat ihn an einem Bein gepackt und dadurch um-
    geworfen.
    Diese Hilfe hat mich gerettet. Der Neger hat beim
    Fallen sein Beil verloren, dessen ich mich bemächtige,
    und eben will ich ihm den Schädel spalten, als Andrés
    Hand nun auch mich zurückhält.
    In der Tat, die Meuterer sind schon auf das Vorderteil
    zurückgedrängt. Robert Kurtis hat, nachdem er Owens
    Axthieb glücklich pariert, selbst ein Beil erlangt und
    schlägt damit aus vollen Kräften zu.
    Owen springt aber zur Seite, und das Beil dringt Wil-
    son mitten in die Brust. Der Elende stürzt rückwärts zu-
    sammen, vom Floß herunter und verschwindet im Was-
    ser.»Rettet ihn! Rettet ihn!« ruft der Hochbootsmann.

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    »Der ist tot!« erwidert Daoulas.
    »Eben deswegen . . .«, sagt noch der Bootsmann, ohne
    den Satz ganz auszusprechen.
    Aber Wilsons Tod beendet den Kampf. Flaypol und
    Burke sind im höchsten Stadium der Trunkenheit be-
    sinnungslos hingesunken, und wir stürzen uns auf Jynx-
    trop, der fest an den Fuß des Masts gebunden wird.
    Der Zimmermann und der Hochbootsmann haben
    indessen Owen überwältigt. Mit der blutigen Axt in der
    Hand nähert sich ihm Robert Kurtis und sagt:
    »Verrichte dein letztes Gebet. Du stirbst!«
    »Sie haben gewiß rechte Lust, mich aufzuessen!« er-
    widert Owen mit einer Frechheit ohnegleichen.
    Diese trotzige Antwort rettet ihm das Leben. Robert
    Kurtis wirft die Axt weg, die er schon zum Schlag erho-
    ben hat, und setzt sich leichenblaß auf dem Heck des
    Floßes nieder.
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    5. und 6. Januar. – Diese Szenen haben uns tief ergriffen.
    Owens unter den tatsächlichen Verhältnissen gegebene
    Antwort ist wohl geeignet, auch die Mutigsten nieder-
    zuschlagen.
    Sowie ich wieder ein wenig zur Ruhe gekommen bin,
    habe ich dem jungen Letourneur meinen Dank dafür
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    ausgesprochen, daß er mir durch seine Intervention das
    Leben gerettet hat.
    »Sie danken mir«, antwortet er, »wo Sie mir fluchen
    sollten!«
    »Ihnen, André?«
    »Mr. Kazallon, ich habe ja nichts getan, als Ihre Lei-
    den verlängert!«
    »Darauf kommt es nicht an, Mr. Letourneur«, mischt
    sich da Miss Herbey ein, »Sie haben Ihre Pflicht ge-
    tan!«
    Immer dasselbe Gefühl der Pflicht, die dem jungen
    Mädchen über alles geht! Sie ist durch die grausamen
    Entbehrungen abgemagert, ihre durch die fortwährende
    Feuchtigkeit verdorbenen und schadhaft gewordenen
    Kleider flattern umher, doch keine Klage kommt aus ih-
    rem Mund und nichts vermag ihr den Mut zu rauben.
    »Mr. Kazallon«, fragt sie mich, »nicht wahr, wir wer-
    den verhungern müssen? – Wie lange kann man wohl
    leben, ohne zu essen?«
    »Weit länger, als man glauben sollte! Vielleicht lange,
    unbestimmbare Tage!«
    »Kräftige Personen leiden ja wohl dabei am meis-
    ten?«
    »Ja, aber sie unterliegen schneller, das gleicht sich
    aus.«
    Wie war ich nur imstande, dem jungen Mädchen so
    zu antworten? Wie? Ich fand kein Wort des Trostes für
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    sie? Ich habe ihr die gräßliche Wahrheit schonungslos
    ins Gesicht geschleudert! Ist denn in mir jedes mensch-
    liche Gefühl erloschen? André Letourneur und sein Va-
    ter, die mich hören konnten, sahen mich wiederholt er-
    staunt mit ihren großen, vom Hunger geweiteten Au-
    gen an. Sie schienen sich zu fragen, ob ich es war, der
    so sprach. Einige Minuten später, als wir ziemlich allein
    waren, sagte mir Miss Herbey mit leiser Stimme:
    »Mr. Kazallon, würden Sie mir wohl einen Dienst er-
    weisen?«
    »Gern, Miss«, habe ich erregt geantwortet; bereit, für
    das junge Mädchen alles zu tun.
    »Wenn ich vor Ihnen sterbe«, fährt Miss Herbey fort,
    »und das kann ja der Fall sein, trotzdem ich schwäch-
    licher bin, – so versprechen Sie mir, meine Leiche ins
    Meer zu werfen.«
    »Miss Herbey, ich tat sehr unrecht . . .«
    »Nein, nein«, fällt sie mir trübe lächelnd ins Wort, »Sie
    taten ganz recht daran, mir alles zu sagen, nur verspre-
    chen Sie mir die Erfüllung meiner Bitte. Es ist wohl eine
    Schwäche von mir. Lebend fürchte ich nichts . . . aber tot
    . . . versprechen Sie mir, mich ins Wasser zu werfen.«
    Ich habe es ihr versprochen. Miss Herbey reicht mir
    die Hand zum Dank, und ich fühle, wie ihre mageren
    Finger leise meine drücken.
    Noch eine Nacht ist vorübergeschlichen. Zeitweise
    sind meine Qualen so arg, daß ich unwillkürlich auf-
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    schreie; dann mildern sie sich wohl auch wieder, und
    ich versinke in eine Art Stumpfsinn. Beim

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