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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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ihre Lippen, bis der Zim-
    mermann mit einem gar nicht wiederzugebenden Ton
    ausruft:
    »Es wendet!«
    Unser ganzes Ich scheint sich jetzt in die Augen zu-
    sammenzudrängen, und erstarrt stehen die einen wie
    Bildsäulen, die andern liegen auf den Knien. Ein furcht-
    barer Fluch entfährt dem Mund des Hochbootsmanns.
    Auf 9 Meilen Entfernung hat das Schiff unsere Signale
    unmöglich wahrnehmen können! Das Floß stellt ja in
    dem unendlichen Raum nur ein Pünktchen dar, das im
    Glanz der blendenden Sonnenstrahlen wohl ganz ver-
    schwindet! Man hat uns nicht gesehen! Könnte der Ka-
    pitän jenes Schiffes, er sei wer auch immer, wenn er uns
    bemerkt hätte, so unglaublich unmenschlich sein, da-
    — 253 —
    vonzusegeln, ohne uns geholfen zu haben? Nein! Das
    ist unmöglich! Nein, er hat uns nicht gesehen!
    »Macht Feuer! Laßt Rauch aufsteigen!« ruft Robert
    Kurtis. »Verbrennt die Planken des Floßes! Freunde!
    Meine Freunde! Das ist ja die letzte Möglichkeit, uns
    bemerkbar zu machen!«
    Im Vorderteil werden einige Bretter zu einem Schei-
    terhaufen zusammengetragen. Nicht ohne Mühe set-
    zen wir diese, da sie zu naß sind, in Brand, aber sie ge-
    ben deshalb auch einen um so dichteren und weiterhin
    sichtbaren Rauch. Bald wirbelt eine schwarze Säule ge-
    rade empor. Wenn es jetzt Nacht wäre oder doch vor
    dem Verschwinden der Brigg dunkel würde, müßten die
    Flammen trotz der Entfernung bis zu jener hin erkenn-
    bar sein!
    Doch – die Stunden verrinnen, das Feuer erlischt . . .!
    Um in solchen Augenblicken sich mit frommer Er-
    gebenheit dem göttlichen Willen zu unterwerfen, muß
    man mehr Macht über sich haben, als ich besitze. Nein!
    Jetzt schwindet mein Vertrauen auf Gott, der unsere Fol-
    terqualen durch solche aufblitzende Hoffnungsstrah-
    len noch erhöht, und ich lästere ihn, wie ihn der Hoch-
    bootsmann gelästert hat!. . . Da legt sich eine schwache
    Hand ganz leise auf meine Schulter, und Miss Herbey
    zeigt nach dem Himmel!
    Doch ich ertrage es nicht länger! Ich mag nichts mehr
    — 254 —
    sehen und vergrabe mich seufzend unter unserer Segel-
    decke . . .
    Inzwischen hat das Fahrzeug andere Halsen beige-
    setzt, dann entfernt es sich langsam nach Osten, und
    3 Stunden später vermochten auch die schärfsten See-
    mannsaugen kein Stückchen Leinwand mehr am Hori-
    zont zu erblicken!
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    15. Januar. – Nach diesem letzten Schlag, der uns ge-
    troffen, haben wir nichts mehr vor uns, als den Tod.
    Ob er schneller oder langsamer herankommen mag, er
    kommt doch gewiß.
    Heute sind im Westen einige Wolken aufgestiegen,
    wobei sich dann und wann ein kurzer Windstoß fühl-
    bar machte. Auch die Temperatur ist erträglicher, und
    trotz unserer äußersten Erschlaffung empfinden wir
    diese wohltuende Änderung. Meine Kehle saugt eine
    weniger trockene Luft ein, aber seit dem Fischzug des
    Hochbootsmanns, d.h. seit 7 Tagen, haben wir nichts
    gegessen. Auf dem Floß ist nichts mehr vorhanden, und
    gestern habe ich André Letourneur das letzte von sei-
    nem Vater ersparte Stück Schiffszwieback zugestellt, das
    jener mir unter Tränen übergab.
    Seit gestern hat sich auch der Neger Jynxtrop seiner
    Fesseln zu entledigen gewußt, doch hat ihn Robert Kur-
    — 255 —
    tis deshalb nicht von neuem binden lassen. Wozu auch?
    Dieser Elende und alle seine Mitschuldigen sind durch
    das lange Fasten ganz von Kräften gekommen. Was wä-
    ren sie jetzt noch zu unternehmen imstande?
    Heute zeigen sich mehrere große Haie, deren schwarze
    Flossen wir das Wasser mit großer Schnelligkeit durch-
    schneiden sehen. Ich kann mich des Gedankens nicht
    entschlagen, daß sie die lebendigen Särge darstellen, die
    unsere erbärmlichen Überreste aufzunehmen bestimmt
    sind. Sie erschrecken mich keineswegs, nein, sie ha-
    ben etwas Anheimelndes. Sie kommen bis dicht an den
    Rand des Floßes heran, und Flaypols Arm, der darüber
    hinaushing, wäre beinahe von einem jener Ungeheuer
    weggeschnappt worden.
    Der Hochbootsmann betrachtet mit starren, hohlen
    Augen und zusammengebissenen, hinter den erhobenen
    Lippen herausleuchtenden Zähnen diese Haifische un-
    ter einem wesentlich anderen Gesichtspunkt als ich. Er
    will sie verzehren, doch nicht von ihnen verzehrt wer-
    den. Wenn er einen von ihnen zu fangen imstande wäre,
    er würde sich nicht vor seinem zähen Fleisch scheuen.
    Wir anderen auch nicht.
    Der Bootsmann will den Versuch machen; da er aber
    keinen geeigneten Haken besitzt, an den ein Seil zu be-
    festigen wäre,

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