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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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ich wäre gewiß meiner ersten Bewegung nicht
    Meister geworden.
    »Schauen Sie«, fügt er hinzu, »da hinten über Back-
    bord!«
    Ich erhebe mich, affektiere eine mir gewiß ganz
    fremde Gleichgültigkeit, und meine Augen schweifen
    über den mir von Robert Kurtis bezeichneten Bogen
    am Horizont.
    Meine Augen sind freilich nicht die eines Seemanns,
    aber ich erkenne doch, als kaum unterscheidbare Sil-
    houette, ein Schiff unter Segel.
    Fast zur gleichen Zeit ruft der Hochbootsmann, des-
    sen Blicke einige Sekunden nach dieser Gegend hinaus-
    schweifen:
    »Ein Schiff in Sicht!«
    Die Meldung eines entfernten Schiffes erregt nicht
    unmittelbar die Bewegung, die man wohl hätte erwar-
    ten sollen, und bringt jedenfalls keinerlei Aufregung
    hervor, ob man nun daran nicht glauben wollte, oder
    die Kräfte schon zu sehr erschöpft waren; kein Mensch
    erhebt sich. Aber der Bootsmann ruft wiederholt: »Ein
    Schiff ! Ein Schiff !« Und aller Blicke heften sich an den
    Horizont.
    Dieses Mal ist die Tatsache nicht zu leugnen, wir se-
    hen es, das unerwartete Fahrzeug. Wird es auch uns se-
    hen?
    Inzwischen besprechen die Matrosen die äußere Er-

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    scheinung des Fahrzeugs und seine Richtung, beson-
    ders die letztere.
    Robert Kurtis erklärt nach einer aufmerksamen Be-
    trachtung desselben:
    »Es ist eine Brigg, die mit Steuerbordhalsen dicht am
    Wind läuft. Hält sie ihren jetzigen Kurs nur 2 Stunden
    lang ein, muß sie unsern Weg kreuzen.«
    2 Stunden! – 2 Jahrhunderte! Das Schiff kann seinen
    Kurs aber jede Minute wechseln und wird das um so
    wahrscheinlicher tun, weil es offenbar durch Lavieren
    gegen den Wind Fahrt zu machen sucht. Bestätigt sich
    aber diese Annahme, wird es nach Vollendung seines
    »Schlags« (d.i. die Strecke, die ein lavierendes Schiff in
    ein und derselben Richtung zurücklegt) Backbordhal-
    sen beisetzen und sich wieder entfernen. Oh, wenn es
    mit dem Wind im Rücken oder von der Seite segelte, wir
    hätten ein Recht, zu hoffen!
    Uns geht es jetzt darum, die Aufmerksamkeit je-
    nes Schiffes zu erregen. Robert Kurtis ordnet alle mög-
    lichen Signale an, denn die Brigg ist wohl noch ein Dut-
    zend Meilen von uns im Osten entfernt, und unsere
    Rufe könnten unmöglich gehört werden. Es steht uns
    auch kein Gewehr zur Verfügung, dessen Detonationen
    so weit hin drängen. Wir wollen also eine ganz beliebige
    Flagge am Mast aufhissen. Miss Herbeys rotes Shawl-
    tuch sticht am lebhaftesten von der Färbung des Meeres
    und des Himmels ab.
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    Das Tuch wird möglichst hoch angebracht, und eine
    leichte Brise, die gerade jetzt die Oberfläche der Wellen
    kräuselt, entfaltet es vollständig. Sein wiederholtes lusti-
    ges Flattern erfüllt unsere Herzen mit froher Hoffnung.
    Wenn ein Mensch am Ertrinken ist, weiß man ja, mit
    welcher Kraft er sich an einen Strohhalm klammert. Die
    Flagge ist dieser Strohhalm für uns!
    Eine ganze Stunde lang bewegen uns tausend ab-
    wechselnde Gefühle. Ohne Zweifel hat sich die Brigg
    dem Floß genähert, doch bisweilen scheint es, als ob
    sie anhielte, und man zerquält sich mit der Frage, ob sie
    nicht im Begriff ist, zu wenden.
    O Gott, wie langsam schleppt dieses Schiff sich hin!
    Es fährt mit vollen Segeln, und doch ist sein Rumpf auch
    jetzt noch kaum über dem Horizont sichtbar. Doch der
    Wind ist schwach und legt sich immer mehr . . .! Wir
    gäben ganze Jahre unseres Lebens darum, jetzt eine
    Stunde älter zu sein!
    Gegen halb 1 schätzen der Kapitän und der Hoch-
    bootsmann die Entfernung des Schiffes noch auf 9 Mei-
    len.In anderthalb Stunden ist es uns demnach nur 3 Mei-
    len näher gekommen, und kaum mag der Lufthauch,
    der noch über dem Floß weht, bis zu ihm reichen. Mir
    scheinen seine Segel gar nicht mehr zu schwellen, son-
    dern an den Masten schlaff herabzuhängen. Ich beob-
    achte, gegen den Wind gerichtet, ob wieder eine Brise
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    aufspringt; aber die Wellen scheinen zu träumen, und
    der Atem des Windes, der unsere Hoffnungen weckte,
    erstirbt.
    Ich befinde mich auf dem Heck neben den Herren
    Letourneur und Miss Herbey; unsere ängstlichen Blicke
    richten sich abwechselnd auf das Schiff und den Kapi-
    tän. Robert Kurtis steht unbeweglich vorn, an den Mast
    gelehnt, der Hochbootsmann dicht neben ihm; ihre Au-
    gen wenden sich keinen Moment von der Brigg ab. Von
    ihrem Antlitz, das jetzt ja nicht ausdruckslos bleiben
    kann, lesen wir die Empfindungen ab, die sie erregen.
    Nicht ein Wort kommt über

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