Die Chancellor
ich wäre gewiß meiner ersten Bewegung nicht
Meister geworden.
»Schauen Sie«, fügt er hinzu, »da hinten über Back-
bord!«
Ich erhebe mich, affektiere eine mir gewiß ganz
fremde Gleichgültigkeit, und meine Augen schweifen
über den mir von Robert Kurtis bezeichneten Bogen
am Horizont.
Meine Augen sind freilich nicht die eines Seemanns,
aber ich erkenne doch, als kaum unterscheidbare Sil-
houette, ein Schiff unter Segel.
Fast zur gleichen Zeit ruft der Hochbootsmann, des-
sen Blicke einige Sekunden nach dieser Gegend hinaus-
schweifen:
»Ein Schiff in Sicht!«
Die Meldung eines entfernten Schiffes erregt nicht
unmittelbar die Bewegung, die man wohl hätte erwar-
ten sollen, und bringt jedenfalls keinerlei Aufregung
hervor, ob man nun daran nicht glauben wollte, oder
die Kräfte schon zu sehr erschöpft waren; kein Mensch
erhebt sich. Aber der Bootsmann ruft wiederholt: »Ein
Schiff ! Ein Schiff !« Und aller Blicke heften sich an den
Horizont.
Dieses Mal ist die Tatsache nicht zu leugnen, wir se-
hen es, das unerwartete Fahrzeug. Wird es auch uns se-
hen?
Inzwischen besprechen die Matrosen die äußere Er-
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scheinung des Fahrzeugs und seine Richtung, beson-
ders die letztere.
Robert Kurtis erklärt nach einer aufmerksamen Be-
trachtung desselben:
»Es ist eine Brigg, die mit Steuerbordhalsen dicht am
Wind läuft. Hält sie ihren jetzigen Kurs nur 2 Stunden
lang ein, muß sie unsern Weg kreuzen.«
2 Stunden! – 2 Jahrhunderte! Das Schiff kann seinen
Kurs aber jede Minute wechseln und wird das um so
wahrscheinlicher tun, weil es offenbar durch Lavieren
gegen den Wind Fahrt zu machen sucht. Bestätigt sich
aber diese Annahme, wird es nach Vollendung seines
»Schlags« (d.i. die Strecke, die ein lavierendes Schiff in
ein und derselben Richtung zurücklegt) Backbordhal-
sen beisetzen und sich wieder entfernen. Oh, wenn es
mit dem Wind im Rücken oder von der Seite segelte, wir
hätten ein Recht, zu hoffen!
Uns geht es jetzt darum, die Aufmerksamkeit je-
nes Schiffes zu erregen. Robert Kurtis ordnet alle mög-
lichen Signale an, denn die Brigg ist wohl noch ein Dut-
zend Meilen von uns im Osten entfernt, und unsere
Rufe könnten unmöglich gehört werden. Es steht uns
auch kein Gewehr zur Verfügung, dessen Detonationen
so weit hin drängen. Wir wollen also eine ganz beliebige
Flagge am Mast aufhissen. Miss Herbeys rotes Shawl-
tuch sticht am lebhaftesten von der Färbung des Meeres
und des Himmels ab.
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Das Tuch wird möglichst hoch angebracht, und eine
leichte Brise, die gerade jetzt die Oberfläche der Wellen
kräuselt, entfaltet es vollständig. Sein wiederholtes lusti-
ges Flattern erfüllt unsere Herzen mit froher Hoffnung.
Wenn ein Mensch am Ertrinken ist, weiß man ja, mit
welcher Kraft er sich an einen Strohhalm klammert. Die
Flagge ist dieser Strohhalm für uns!
Eine ganze Stunde lang bewegen uns tausend ab-
wechselnde Gefühle. Ohne Zweifel hat sich die Brigg
dem Floß genähert, doch bisweilen scheint es, als ob
sie anhielte, und man zerquält sich mit der Frage, ob sie
nicht im Begriff ist, zu wenden.
O Gott, wie langsam schleppt dieses Schiff sich hin!
Es fährt mit vollen Segeln, und doch ist sein Rumpf auch
jetzt noch kaum über dem Horizont sichtbar. Doch der
Wind ist schwach und legt sich immer mehr . . .! Wir
gäben ganze Jahre unseres Lebens darum, jetzt eine
Stunde älter zu sein!
Gegen halb 1 schätzen der Kapitän und der Hoch-
bootsmann die Entfernung des Schiffes noch auf 9 Mei-
len.In anderthalb Stunden ist es uns demnach nur 3 Mei-
len näher gekommen, und kaum mag der Lufthauch,
der noch über dem Floß weht, bis zu ihm reichen. Mir
scheinen seine Segel gar nicht mehr zu schwellen, son-
dern an den Masten schlaff herabzuhängen. Ich beob-
achte, gegen den Wind gerichtet, ob wieder eine Brise
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aufspringt; aber die Wellen scheinen zu träumen, und
der Atem des Windes, der unsere Hoffnungen weckte,
erstirbt.
Ich befinde mich auf dem Heck neben den Herren
Letourneur und Miss Herbey; unsere ängstlichen Blicke
richten sich abwechselnd auf das Schiff und den Kapi-
tän. Robert Kurtis steht unbeweglich vorn, an den Mast
gelehnt, der Hochbootsmann dicht neben ihm; ihre Au-
gen wenden sich keinen Moment von der Brigg ab. Von
ihrem Antlitz, das jetzt ja nicht ausdruckslos bleiben
kann, lesen wir die Empfindungen ab, die sie erregen.
Nicht ein Wort kommt über
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