Die Chirurgin
den er für Rizzoli empfand, mit dem in Einklang zu bringen, was er sie dort oben auf dem Dach hatte tun sehen. Es war zu spät, seine Aussage gegenüber Marquette zurückzuziehen. Es war dunkel gewesen dort oben, eine unübersichtliche Situation; vielleicht hatte Rizzoli wirklich geglaubt, Pacheco habe eine Waffe in der Hand. Vielleicht hatte sie irgendeine Geste, eine Bewegung gesehen, die Moore entgangen war. Aber so sehr er sich auch mühte, er konnte in seiner Erinnerung nichts finden, was ihre Handlungsweise gerechtfertigt hätte. Die Tat, deren Zeuge er geworden war, konnte er beim besten Willen nur als kaltblütige Hinrichtung interpretieren.
Als er sie das nächste Mal sah, saß sie vornübergebeugt an ihrem Schreibtisch und hielt sich einen Eisbeutel an die Wange. Es war nach Mitternacht, und sie war nicht in gesprächiger Stimmung. Aber sie hob die Augen, als er vorbeiging, und ihr Blick ließ ihn zur Salzsäule erstarren.
»Was haben Sie Marquette erzählt?«, fragte sie.
»Das, was er wissen wollte. Wie Pacheco zu Tode gekommen ist. Ich habe ihn nicht angelogen.«
»Sie Ratte.«
»Meinen Sie, es hat mir Spaß gemacht, ihm die Wahrheit zu sagen?«
»Sie hatten die Wahl.«
»Die hatten Sie auch, dort oben auf dem Dach. Sie haben sich für das Falsche entschieden.«
»Und Sie treffen nie eine falsche Entscheidung, was? Sie machen nie einen Fehler.«
»Wenn, dann stehe ich auch dazu.«
»Ach ja, natürlich. Der ach so heilige Thomas.«
Er trat an ihren Schreibtisch und sah ihr direkt in die Augen. »Sie gehören zu den besten Polizisten, mit denen ich je gearbeitet habe. Aber heute Abend haben Sie einen Mann kaltblütig erschossen, und ich habe es gesehen.«
»Sie mussten es nicht sehen.«
»Aber ich habe es gesehen.«
»Was haben wir denn da oben wirklich gesehen, Moore? Jede Menge Schatten, undeutliche Bewegungen. Zwischen einer richtigen und einer falschen Entscheidung liegt gerade mal so viel.« Sie hielt zwei Finger hoch, die sich fast berührten. »Und wir kalkulieren das ein. Wir gestehen einander einen gewissen Spielraum des Zweifels ein.«
»Das habe ich versucht.«
»Aber nicht ernsthaft genug.«
»Ich lüge nicht für einen anderen Polizisten. Selbst, wenn ich mit ihm oder ihr befreundet bin.«
»Vergessen wir doch nicht, wer hier die Schurken sind, verdammt noch mal. Wir sind es nicht.«
»Wenn wir uns auf Lügen einlassen, wie können wir dann noch zwischen ihnen und uns differenzieren?«
Sie nahm den Eisbeutel aus dem Gesicht und deutete auf ihre Wange. Ein Auge war zugeschwollen, und ihre ganze linke Gesichtshälfte war aufgequollen wie ein fleckiger Luftballon. Der brutale Anblick ihrer Verletzung schockierte ihn. »Das hat Pacheco mir angetan. Nicht gerade ein freundschaftlicher Klaps, oder? Sie reden von denen und uns. Auf welcher Seite hat er gestanden? Ich habe der Welt einen Gefallen getan, als ich ihn weggepustet habe. Niemand wird den Chirurgen vermissen.«
»Karl Pacheco war nicht der Chirurg. Sie haben den Falschen weggepustet.«
Sie starrte ihn entgeistert an. Ihr lädiertes Gesicht sah aus wie ein grellbunter Picasso, halb grotesk entstellt, halb normal. »Wir hatten einen positiven DNS-Test! Er war derjenige …«
»… der Nina Peyton vergewaltigt hat, ja. Aber nichts an ihm passt auf den Chirurgen.« Er ließ den Laborbericht über die Haar- und Faseruntersuchung auf ihren Schreibtisch fallen.
»Was ist das?«
»Die mikroskopische Analyse von Pachecos Kopfhaaren. Andere Farbe, andere Lockenkrümmung, andere Dichte des Kutikulums als bei dem Haar aus Elena Ortiz’ Wunde. Keine Anzeichen von Bambushaar.«
Sie saß reglos da und starrte auf den Laborbericht. »Ich verstehe nicht.«
»Pacheco hat Nina Peyton vergewaltigt. Das ist alles, was wir mit Sicherheit über ihn sagen können.«
»Sterling und Ortiz wurden beide vergewaltigt …«
»Wir können nicht beweisen, dass Pacheco es getan hat. Jetzt, da er tot ist, werden wir es nie herausfinden.«
Sie sah zu ihm auf, die unversehrte Hälfte ihres Gesichts war wutverzerrt. »Er muss es gewesen sein. Wählen Sie willkürlich drei Frauen in dieser Stadt aus – wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie alle vergewaltigt wurden? Das hat der Chirurg hingekriegt. Drei Versuche, drei Treffer. Wenn er es nicht ist, der sie vergewaltigt, woher weiß er dann, welche er aussuchen soll, welche er abschlachten soll? Wenn es nicht Pacheco ist, dann ist es ein Komplize, ein Partner von ihm. Irgendein
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