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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Bett und hält ihn in den Himmel.
    Und so wurde das Ritual in Bernardino Sahagúns Codex Florentio beschrieben, der Allgemeinen Geschichte des neuen Spanien:
    Ein Opferpriester trug den Adlerstab, senkte ihn in die Brust des Gefangenen, dort, wo das Herz gewesen war, befleckte ihn mit Blut, ja, tauchte ihn gar in das Blut ein. Dann hob er auch das Blut als Opfergabe zur Sonne empor. Man sagte: » So gibt er der Sonne zu trinken. « Der Sieger sammelte sodann das Blut seines Gefangenen in einer grünen Schüssel mit federbesetztem Rand. Die Opferpriester gossen es für ihn hinein, auch der hohle Stab, der ebenso mit Federn geschmückt war, wurde hineingelegt, und dann zog der Sieger davon, den Dämonen Nahrung zu geben.
     
    Nahrung für die Dämonen.
    Welch eine gewaltige Bedeutung doch in diesem Wort liegt – Blut.
    Dieser Gedanke kommt mir, als ich zusehe, wie ein dünner Strahl davon in eine nadelfeine Pipette gezogen wird.
    Um mich herum ist alles voller Gestelle mit Reagenzgläsern, und in der Luft liegt das Summen von Maschinen. Die Alten sahen im Blut einen heiligen Stoff, Bewahrer des Lebens, Nahrung für Ungeheuer; und ich teile ihre Faszination, obwohl ich einsehe, dass es lediglich eine Körperflüssigkeit ist, eine Suspension von Zellen in Plasma. Das Material, mit dem ich täglich arbeite.
    Der durchschnittliche menschliche Körper von siebzig Kilo Gewicht enthält nur fünf Liter Blut. Davon sind 45 Prozent Zellen, der Rest ist Plasma, eine chemische Suppe, die zu 95 Prozent aus Wasser und im Übrigen aus Proteinen, Elektrolyten und Nährstoffen besteht. Manche würden sagen, dass man das Blut seiner göttlichen Natur beraubt, wenn man es auf seine biologischen Bausteine reduziert, doch ich bin anderer Meinung. Erst wenn man die einzelnen Bausteine betrachtet, erkennt man seine wundersamen Eigenschaften.
    Die Maschine piepst zum Zeichen, dass die Analyse abgeschlossen ist, und der Drucker spuckt einen Bericht aus. Ich reiße das Blatt ab und studiere die Resultate.
    Mit einem einzigen Blick erfahre ich eine Menge über Mrs. Susan Carmichael, der ich nie begegnet bin. Ihr Hämatokrit ist niedrig – nur achtundzwanzig bei einem Normalwert von vierzig. Sie leidet unter Blutarmut, das heißt, dass sie zu wenig rote Blutkörperchen hat, die den Sauerstoff durch die Adern transportieren. Es ist das Protein Hämoglobin, mit dem diese scheibenförmigen Zellen voll gepackt sind, das unserem Blut die rote Farbe gibt, das unsere Nagelbetten rosa färbt und einem jungen Mädchen seine hübschen rosigen Wangen verleiht. Mrs. Carmichaels Nagelbetten sind fahl, und wenn man ihr Augenlid zurückzöge, würde die Bindehaut darunter nur eine ganz blasse Rosafärbung aufweisen. Weil sie anämisch ist, muss ihr Herz um so schneller arbeiten, um das verdünnte Blut durch ihre Arterien zu pumpen. Deshalb bleibt sie auf jedem Treppenabsatz stehen, um Atem zu holen und ihren rasenden Puls zu beruhigen. Ich sehe sie vornübergebeugt dastehen, die Hand an den Hals gelegt, während ihre Brust sich hebt und senkt wie ein Blasebalg. Jeder, der ihr im Treppenhaus begegnet, kann sehen, dass sie nicht gesund ist.
    Ich kann es allein an diesem Blatt Papier erkennen.
    Das ist aber noch nicht alles. Ihr Gaumen ist mit Petechien übersät – kleinen roten Flecken an Stellen, wo das Blut durch die Kapillargefäße gedrungen ist und sich in der Schleimhaut festgesetzt hat. Vielleicht hat sie diese Blutungen von der Größe eines Stecknadelkopfs noch gar nicht bemerkt. Vielleicht hat sie sie an anderen Stellen ihres Körpers entdeckt, unter ihren Fingernägeln oder an den Schienbeinen. Vielleicht findet sie unerklärliche Blutergüsse, erschreckende blaue Inseln auf ihren Armen und Oberschenkeln, und sie überlegt krampfhaft, wann sie sich verletzt haben könnte. Ist sie gegen die Autotür gestoßen? War es das Kind, das sich mit seinen kräftigen Händchen an ihr festgeklammert hat? Sie sucht nach externen Erklärungen, dabei lauert der wahre Grund in ihrem Blutkreislauf.
    Ihre Thrombozyten liegen bei zwanzigtausend; der Wert sollte zehnmal höher sein. Ohne Thrombozyten, die winzigen Zellen, die bei der Gerinnung helfen, kann schon der kleinste Stoß einen Bluterguss hinterlassen.
    Doch dieses unscheinbare Blatt Papier gibt noch mehr her.
    Ich sehe mir ihr Differentialblutbild an und erkenne den Grund für ihre Leiden. Der Apparat hat das Vorhandensein von Myeloblasten festgestellt, primitiven Vorstufen der weißen Blutkörperchen, die

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