Die Chirurgin
sich den Kopf und wartete, bis das Schwindelgefühl nachließ, während sie ihre Unvorsichtigkeit verfluchte. Mühsam rappelte sie sich auf, zwang sich mit aller Kraft, klar zu denken. Die Wut war ein wirkungsvoller Antrieb, sie half ihr, einen festen Stand zu finden und die Waffe sicher zu fassen.
Moore war ein paar Meter rechts von ihr; sie konnte seine Silhouette gerade eben erkennen. Er schlich sich um den Tisch und die Stühle herum.
Sie orientierte sich nach links und begann die Dachterrasse in der entgegengesetzten Richtung zu umkreisen. Jedes Pochen in ihrer Wange, jeder Schmerz, der ihr Gesicht wie ein glühender Feuerhaken durchbohrte, erinnerte sie aufs Neue daran, dass sie versagt hatte. Nicht noch einmal. Ihr Blick schweifte über die verschwommenen Schatten von Sträuchern und Topfpflanzen.
Ein schepperndes Geräusch ließ sie rechtsherum wirbeln. Sie hörte schnelle Schritte, sah einen Schatten über die Dachterrasse schießen, direkt auf sie zu.
Moore schrie: »Stehen bleiben! Polizei!«
Der Mann rannte weiter.
Rizzoli ging in die Hocke, die Waffe im Anschlag. Das Pochen in ihrem Gesicht steigerte sich zu Explosionen von höllischen Schmerzen. All die Erniedrigungen, die sie hatte erdulden müssen, die täglichen Brüskierungen, die Beleidigungen, die unaufhörlichen Quälereien, ausgeteilt von den Darren Crowes dieser Welt, all das schien sich in einer geballten Ladung rasender Wut zu konzentrieren.
Jetzt gehörst du mir, du Schwein. Als der Mann plötzlich vor ihr stehen blieb, die Hände zum Himmel gehoben, war die Entscheidung schon unumkehrbar.
Sie drückte den Abzug.
Der Mann zuckte zusammen. Taumelte rückwärts.
Sie schoss ein zweites, ein drittes Mal, und bei jedem Schuss fühlte sie mit Befriedigung, wie der Griff gegen ihre Handfläche schlug.
» Rizzoli! Feuer einstellen! «
Endlich durchdrang Moores Schrei das Dröhnen in ihren Ohren. Sie erstarrte, die Waffe noch immer auf das Ziel gerichtet. Ihre Armmuskeln waren angespannt und schmerzten.
Der Mann lag am Boden und rührte sich nicht. Sie richtete sich auf und trat langsam auf die zusammengesunkene Gestalt zu. Mit jedem Schritt wuchs ihr Entsetzen über das, was sie gerade getan hatte.
Moore kniete schon neben dem Mann und tastete nach einem Puls. Er blickte zu ihr auf, und obwohl sie seinen Gesichtsausdruck auf dieser finsteren Dachterrasse nicht erkennen konnte, wusste sie, dass es ein anklagender Blick war.
»Er ist tot, Rizzoli.«
»Er hatte etwas – in der Hand …«
»Da war nichts.«
»Ich habe es gesehen. Ich weiß es genau!«
»Er hatte die Hände erhoben.«
»Verdammt noch mal, Moore! Es war ein berechtigter Schusswaffengebrauch. Sie müssen mir Rückendeckung geben!«
Plötzlich waren andere Stimmen zu hören. Mehrere Polizisten waren auf das Dach geklettert und kamen auf sie zu. Moore und Rizzoli wechselten kein weiteres Wort.
Crowe leuchtete den Mann mit seiner Taschenlampe an. Rizzoli hatte eine albtraumhafte Vision von aufgerissenen Augen, einem blutdurchtränkten Hemd.
»Hey, das ist Pacheco!«, sagte Crowe. »Wer hat ihn erledigt?«
Mit tonloser Stimme antwortete Rizzoli: »Das war ich.«
Irgendjemand gab ihr einen Klaps auf den Rücken. »Lady-Cop landet Volltreffer.«
»Halt die Klappe«, sagte Rizzoli. »Halt ganz einfach die Klappe, ja?« Mit steifen Schritten ging sie zur Feuerleiter, stieg herunter bis zur Straße und verkroch sich benommen in ihrem Wagen. Dort saß sie zusammengesunken hinter dem Lenkrad, während die Schmerzen allmählich nachließen und durch ein Gefühl der Übelkeit ersetzt wurden. Immer wieder ging sie im Kopf die Szene durch, die sich auf der Dachterrasse abgespielt hatte. Was Pacheco getan hatte, was sie getan hatte. Sie sah ihn laufen, ein bloßer Schatten, der auf sie zuhuschte. Sie sah, wie er stehen blieb. Ja, stehen blieb. Sie sah, wie er sie anschaute.
Eine Waffe. Lieber Gott, mach, dass da eine Waffe war.
Aber sie hatte keine Waffe gesehen. In dem Sekundenbruchteil, bevor sie geschossen hatte, hatte das Bild sich in ihr Gehirn eingebrannt. Ein Mann, der reglos dastand. Ein Mann, der die Hände erhoben hatte zum Zeichen, dass er sich ergeben wollte.
Jemand klopfte an das Wagenfenster. Barry Frost. Sie drehte die Scheibe herunter.
»Marquette sucht Sie«, sagte er.
»Okay.«
»Stimmt was nicht? Rizzoli, ist alles klar mit Ihnen?«
»Ich fühle mich, als wäre mir ein Sattelschlepper übers Gesicht gefahren.«
Frost steckte den Kopf durchs Fenster und
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