Die Chirurgin
beschissener Geier, der sich an dem Aas weidet, das Pacheco zurücklässt.« Sie drückte ihm den Laborbericht wieder in die Hand. »Vielleicht habe ich nicht den Chirurgen erschossen. Aber der Mann, den ich erschossen habe, war Abschaum. Das scheinen alle zu vergessen. Pacheco war ein Stück Dreck. Und bekomme ich jetzt etwa eine Auszeichnung?« Sie stand auf und schob ihren Stuhl so heftig vor, dass er gegen den Schreibtisch stieß.
»Verwaltungsarbeit. Marquette hat mich zu einem Sesselpupser degradiert. Vielen Dank auch.«
Sie ging, und er sah ihr schweigend nach. Er wusste nicht, was er sagen sollte, wie er den Riss zwischen ihnen wieder kitten sollte.
Er ging zu seinem eigenen Schreibtisch und ließ sich auf den Sessel sinken. Ich bin ein Dinosaurier, dachte er, und tappe unbeholfen durch eine Welt, in der man dafür verachtet wird, dass man die Wahrheit sagt. Er konnte jetzt nicht über Rizzoli nachdenken. Die Anklage gegen Pacheco war in sich zusammengefallen, und sie waren wieder dort, wo sie angefangen hatten: auf der Jagd nach einem namenlosen Killer.
Drei vergewaltigte Frauen. Darauf kamen sie immer wieder zurück. Wie fand der Chirurg sie? Nur Nina Peyton hatte ihre Vergewaltigung der Polizei gemeldet. Elena Ortiz und Diana Sterling hatten das nicht getan. Ihr Trauma war eine Privatangelegenheit geblieben, von der nur die Vergewaltiger, die Opfer und das behandelnde medizinische Personal wussten. Aber die drei Frauen hatten an unterschiedlichen Stellen medizinischen Beistand gesucht: Sterling in einer gynäkologischen Praxis in der Back Bay, Ortiz in der Notaufnahme des Pilgrim Hospital, und Nina Peyton in der Frauenklinik Forest Hills. Es gab keinerlei Überschneidungen beim Personal, keinen Arzt, keine Krankenschwester und keine Empfangssekretärin, der oder die mit mehr als einer dieser drei Frauen in Kontakt gekommen wäre.
Irgendwie wusste der Chirurg, dass diesen Frauen etwas angetan worden war, und ihr Schmerz lockte ihn an. Sexualmörder suchen sich ihre Opfer unter den verwundbarsten Mitgliedern der Gesellschaft aus. Sie suchen nach Frauen, die sie beherrschen können, Frauen, die sie erniedrigen können, Frauen, die für sie keine Bedrohung darstellen. Und wer ist verletzlicher als eine Frau, der Gewalt angetan worden ist?
Bein Hinausgehen blieb sein Blick an der Wand haften, wo die Fotos von Sterling, Ortiz und Peyton aufgehängt waren. Drei Frauen, drei Vergewaltigungen.
Und eine vierte. Catherine war in Savannah vergewaltigt worden.
Er blinzelte verwirrt, als das Bild ihres Gesichts plötzlich vor seinem geistigen Auge auftauchte. Ein Bild, das er unwillkürlich dieser Galerie der Opfer an der Wand hinzufügen musste.
Irgendwie geht alles auf die Ereignisse in jener Nacht in Savannah zurück. Es geht alles auf Andrew Capra zurück.
16
Im Herzen von Mexico City floss das Blut einst in Strömen. Unter den Fundamenten der modernen Metropole liegen die Ruinen des Templo Mayor, der großen aztekischen Tempelanlage, die das antike Tenochtitlan beherrschte. Hier wurden Zehntausende von Unglücklichen den Göttern geopfert.
An dem Tag, als ich die Tempelruinen besichtigte, bemerkte ich mit einer gewissen Erheiterung, dass ganz in der Nähe eine Kathedrale aufragte, in der die Katholiken Kerzen anzünden und flüsternd ihre Gebete an einen gnädigen Gott im Himmel richten. Sie knien nicht weit von der Stelle, wo die Steine einst glitschig vom Blut waren. Ich kam an einem Sonntag, ohne zu wissen, dass sonntags der Eintritt frei ist; entsprechend wimmelte es im Museum des Templo Mayor von Kindern, deren helle Stimmen in den Sälen widerhallten. Ich mache mir nichts aus Kindern, und schon gar nichts aus dem Chaos, das sie anrichten; sollte ich jemals wieder nach Mexico City kommen, werde ich daran denken, sonntags alle Museen zu meiden.
Aber es war mein letzter Tag in der Stadt, also ließ ich den irritierenden Regen von Lärmsplittern über mich ergehen. Ich wollte die Ausgrabungen sehen, und ich wollte einen Rundgang durch den Saal Nr. 2 machen. Den Saal der Riten und Opferzeremonien.
Die Azteken glaubten, dass der Tod notwendig ist, um das Leben zu erhalten. Um die heilige Energie der Welt zu bewahren, um Katastrophen abzuwehren und sicherzustellen, dass die Sonne weiterhin aufgeht, müssen die Götter mit Menschenherzen gefüttert werden. Ich stand im Saal der Riten und sah in einer Vitrine das Opfermesser, mit dem das Fleisch durchschnitten worden war. Es hatte einen Namen: Tecpatl
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