Die Chirurgin
im Blutkreislauf nichts zu suchen haben. Susan Carmichael leidet unter akuter Myeloblastenleukämie.
Ich stelle mir vor, wie ihr Leben in den kommenden Monaten verlaufen wird. Ich sehe sie ausgestreckt auf einem Behandlungstisch liegen, die Augen im Schmerz zusammengekniffen, während die Knochenmarkskanüle in ihre Hüfte eindringt.
Ich sehe ihr Haar in Büscheln ausfallen, so lange, bis sie sich in das Unvermeidliche fügt und zum elektrischen Rasierer greift.
Ich sehe, wie sie sich morgens über die Toilettenschüssel beugt, und wie sie tagelang nur an die Decke starrt, gefangen in einem Universum, dessen Grenzen die vier Wände ihres Schlafzimmers sind.
Blut ist der Quell des Lebens, die magische Flüssigkeit, die uns erhält. Doch Susan Carmichaels Blut hat sich gegen sie gewandt, es durchströmt ihre Adern wie ein Gift.
All diese intimen Details über sie kenne ich, ohne ihr jemals begegnet zu sein.
Ich übermittle die Laborwerte per Fax an ihre Ärztin, lege den Bericht in den Korb für Ausgänge und greife nach der nächsten Probe. Ein neuer Patient, ein neues Blutröhrchen.
Die Verbindung zwischen Blut und Leben ist seit den frühesten Tagen der Menschheit bekannt. Die Alten wussten nicht, dass das Blut im Knochenmark produziert wird oder dass es zum größten Teil aus Wasser besteht, aber in Ritualen und Opferzeremonien zollten sie seiner Macht Tribut. Die Azteken verwendeten Knochenbohrer und Agavennadeln, um ihre eigene Haut zu durchstechen, bis das Blut floss. Sie bohrten sich Löcher in die Lippen, in die Zunge oder in die Brust, und das Blut, das daraus hervortrat, war ihre persönliche Opfergabe an die Götter. Heute würde man solche Selbstverstümmelung als krankhaft und grotesk bezeichnen, als Anzeichen von Geisteskrankheit.
Ich frage mich, was die Azteken von uns denken würden.
Hier sitze ich, in meiner sterilen Umgebung, in Weiß gehüllt, mit Handschuhen, die meine Hände davor schützen sollen, versehentlich bespritzt zu werden. Wie weit haben wir uns doch von unserer angeborenen Natur entfernt. Beim bloßen Anblick von Blut fallen manche Männer in Ohnmacht, und die Leute beeilen sich, der Öffentlichkeit Schreckensbilder zu ersparen, indem sie die Bürgersteige mit dem Schlauch abspritzen, wenn Blut geflossen ist, oder den Kindern die Augen zuhalten, wenn die Gewalt auf dem Fernsehschirm explodiert. Die Menschen haben vergessen, wer und was sie in Wahrheit sind.
Bis auf einige wenige.
Wir bewegen uns unter den anderen, sind in jeder Beziehung normal. Vielleicht sind wir sogar normaler als alle anderen, weil wir uns nicht wie Mumien in die sterilen Bandagen der Zivilisation haben einhüllen lassen. Wir sehen Blut und wenden uns nicht ab. Wir erkennen seine strahlende Schönheit, wir spüren seine primitive Anziehungskraft.
Jeder, der an einem Unfallort vorbeifährt und den Blick nicht von dem Blut wenden kann, versteht das. Unter dem Ekel, dem Wunsch, sich abzuwenden, pulsiert eine stärkere Kraft. Ein ganz besonderer Reiz.
Wir wollen alle hinsehen. Aber nicht jeder von uns will es sich eingestehen.
Die Einsamkeit ist groß, wenn man nur von abgestumpften Ignoranten umgeben ist. Ich spaziere durch die Stadt und atme Luft, die so dick ist, dass ich sie fast sehen kann. Sie wärmt meine Lungen wie heißer Sirup. Ich lese in den Gesichtern der Passanten und frage mich, wer von ihnen mein geliebter Blutsbruder ist, so wie du es einmal warst. Gibt es irgendjemanden, der die uralte Kraft noch spürt, die uns alle durchfließt? Ich frage mich, ob wir uns wohl erkennen würden, wenn wir uns zufällig begegneten, und ich fürchte, dass die Antwort Nein ist. So tief haben wir uns in diesen Mantel verkrochen, der sich Normalität schimpft.
Und so gehe ich allein meiner Wege. Und ich denke an dich, den Einzigen, der je verstanden hat.
17
Als Ärztin war Catherine dem Tod schon so oft begegnet, dass sein Antlitz ihr wohl vertraut war. Sie hatte in das Gesicht eines Patienten gestarrt und zugesehen, wie das Leben aus den Augen gewichen war und sie leer und glasig zurückgelassen hatte. Sie hatte gesehen, wie die Haut eine graue Färbung annahm, während die Seele aus dem Körper entwich und davonsickerte wie Blut. In der medizinischen Praxis geht es ebenso sehr um den Tod wie um das Leben, und Catherine hatte schon vor langer Zeit seine Bekanntschaft gemacht, als sie ihm über die erkaltenden Überreste eines Patienten hinweg ins Auge blickte. Sie hatte keine Angst vor Leichen.
Und doch
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