Die Chirurgin
– als Moore in die Albany Street einbog und sie das gepflegte Backsteingebäude erblickte, in dem das Büro des amtlichen Leichenbeschauers untergebracht war, da waren ihre Hände plötzlich feucht von Schweiß.
Er parkte den Wagen im Hinterhof des Gebäudes, direkt neben einem weißen Lieferwagen mit der Aufschrift Regierung von Massachusetts, Rechtsmedizinisches Institut. Sie wäre am liebsten im Wagen geblieben; erst als er herüberkam, um ihr die Tür zu öffnen, stieg sie endlich aus.
»Sind Sie bereit?«, fragte er.
»Ich platze nicht gerade vor Vorfreude«, gab sie zu. »Aber bringen wir es hinter uns.«
Obwohl sie schon bei Dutzenden von Autopsien zugesehen hatte, war sie nicht gänzlich auf den Geruch von Blut und durchbrochenen Gedärmen vorbereitet, der ihnen im Labor entgegenschlug. Zum ersten Mal in ihrer medizinischen Laufbahn hatte sie das Gefühl, dass ihr beim Anblick einer Leiche schlecht werden könnte.
Ein älterer Herr, dessen Augen von einem Kunststoffvisier geschützt wurden, drehte sich zu ihnen um. Sie erkannte den amtlichen Leichenbeschauer, Dr. Ashford Tierney, den sie vor sechs Monaten bei einer Konferenz über forensische Pathologie kennen gelernt hatte. Es waren oft die Fehler von Unfallchirurgen, die auf Dr. Tierneys Autopsietisch landeten; und zuletzt hatte sie ihn vor gerade mal einem Monat gesprochen, als es um die unklaren Begleitumstände im Fall eines Kindes gegangen war, das an einem Milzriss verstorben war.
Dr. Tierneys mildes Lächeln bildete einen auffallenden Kontrast zu den blutbeschmierten Handschuhen, die er trug. »Dr. Cordell. Nett, Sie wieder zu sehen.« Er hielt inne, als ihm die Ironie dieser Feststellung aufging. »Die Umstände hätten durchaus angenehmer sein können.«
»Sie haben schon angefangen zu schneiden«, stellte Moore verärgert fest.
»Lieutenant Marquette will schnelle Antworten«, sagte Tierney. »Bei jedem Schusswaffengebrauch durch Polizeibeamte hat er gleich die Presse am Hals.«
»Aber ich hatte extra angerufen, um den Termin für diese Identifizierung zu arrangieren.«
»Dr. Cordell hat schon bei Autopsien zugesehen. Für sie ist das nichts Neues. Lassen Sie mich nur rasch diese Exzision abschließen, und dann kann sie sich das Gesicht anschauen.«
Tierney wandte seine Aufmerksamkeit dem Abdomen des Toten zu. Mit dem Skalpell trennte er den Dünndarm gänzlich ab, zog die verschlungenen Gedärme heraus und legte sie in eine Stahlschüssel. Dann trat er vom Tisch zurück und nickte Moore zu. »Bitte sehr.«
Moore berührte Catherines Arm. Widerstrebend trat sie an den Leichnam heran. Zuerst fiel ihr Blick auf die klaffende Wunde. Ein offenes Abdomen war vertrautes Gelände für sie, die Organe unpersönliche anatomische Orientierungspunkte, Gewebeklumpen, die zu jedem beliebigen Fremden gehören konnten. Organe besaßen keine emotionale Bedeutung, trugen nicht den Stempel der individuellen Persönlichkeit. Sie konnte sie mit dem kühlen Blick der Expertin betrachten, und das tat sie nun auch. Sie registrierte, dass der Magen, die Bauchspeicheldrüse und die Leber noch an Ort und Stelle waren; sie würden später en bloc herausgenommen werden. Der Y-Schnitt, der vom Hals bis zum Schambein reichte, legte sowohl den Brustkorb als auch die Bauchhöhle frei. Herz und Lunge waren bereits entfernt worden, sodass der Thorax nur noch eine leere Höhle war. In der Brustwand waren zwei Schusswunden zu erkennen; die eine Kugel war unmittelbar oberhalb der linken Brustwarze eingedrungen, die zweite ein paar Rippen weiter unten. Beide Geschosse mussten in den Thorax eingetreten sein, wo sie das Herz oder die Lunge durchbohrt hatten. Im linken oberen Bauchbereich fand sich ein weiteres Einschussloch; der Schusskanal verlief mitten durch die Stelle, wo die Milz gewesen war. Eine weitere katastrophale Verletzung. Wer auch immer auf Karl Pacheco geschossen hatte, hatte seinen Tod gewollt.
»Catherine?«, sagte Moore, und sie merkte, dass sie zu lange geschwiegen hatte.
Sie holte tief Luft, atmete den Geruch von Blut und erkaltetem Fleisch ein. Inzwischen war sie mit Karl Pachecos innerer Pathologie ausreichend vertraut; es war Zeit, sich dem Gesicht zuzuwenden.
Sie sah schwarze Haare. Ein schmales Gesicht, die Nase scharfkantig wie eine Klinge. Schlaffe Kiefermuskeln, der Mund weit offen. Gerade Zähne. Zuletzt wandte sie sich den Augen zu. Moore hatte ihr so gut wie nichts über diesen Mann erzählt, nur seinen Namen, und dass er von der Polizei
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